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Shitstorms: Aufmerksamkeit aus der Hölle

Ob Klima, Gender oder Migration, manchmal reicht sogar das Wetter oder der Name einer Berghütte, um einen Shitstorm auszulösen. Die letzten Wochen waren besonders krass. Ein Shitstorm jagt den nächsten. Und bedroht Menschen und Marken, Solo-Selbstständige ebenso wie Konzerne. Dabei haben Unternehmen, Verwaltungen, Teams und Führungskräfte durchaus Handlungsspielraum, Shitstorms zu vermeiden, und, wenn sie doch kommen, kompetent mit ihnen umzugehen.

Woher kommt diese kollektive Empörung, die laufend in Shitstorms mündet?

Vielleicht hat die Hitze der vergangenen Wochen die Hitzigkeit der Debatten und überhitzte Entscheidungen zusätzlich angetrieben. Jedenfalls kam ich kaum noch hinterher bei so vielen Shitstorms. In diesem Blogbeitrag schauen wir uns einige dieser Fälle an und fragen: Was ist hier falsch gelaufen? Was steckt hinter der Empörung? Und welche Handlungsmöglichkeiten haben diejenigen, deren Handeln den Shitstorm ausgelöst hat?

Shitstorms aus der Reihe: Gut gemeint, aber schlecht gemacht

Ein recht häufiger Grund für einen Shitstorm ist einer, der sich eigentlich gut vermeiden lässt. Wenn Teams in bester Absicht etwas tun, aber einen Tunnelblick für einen Aspekt entwickeln und dabei den Kontext, den Sinn und den Überblick über das große Ganze verlieren. In diese Rubrik gehören die Spielplatz-Posse von Köln und der Shitstorm zur Plakataktion des Freibades Büren.

Köln schafft das Wort Spielplatz ab

„Köln schafft das Wort Spielplatz ab“, titelte die Bild-Zeitung am 2. Juli 2025. Begründung: Das Wort sei nicht inklusiv. Was klingt, wie ein Aprilscherz, war leider wahr. Tatsächlich gab es den Plan der Stadtverwaltung, etwa 700 Schilder auszutauschen, auf denen künftig „Spiel- und Aktionsfläche“ stehen soll.

Die Leute rieben sich die Augen und verstanden die Welt nicht mehr. Entsprechend groß war die Aufmerksamkeit in allen Medien, sogar bis ins Ausland. Daraufhin schaltete sich Oberbürgermeisterin Henriette Reker ein und zeigte kein Verständnis für die Pläne ihrer Verwaltung. Nun soll der Stadtrat im September entscheiden.

Recherche kostet Zeit

Ich investiere viel Arbeitszeit in meine Blogbeiträge, beachte journalistische Kriterien und stelle viel weiterführende Information zur Verfügung. Das alles stelle ich kostenlos für alle zur Verfügung – ohne bezahlte Werbung auf meiner Seite. Aber natürlich muss auch ich im Supermarkt mit Euros bezahlen. Daher freue ich mich, wenn du meine ehrenamtliche redaktionelle Arbeit unterstützt.

Aber was war passiert? Vor etwa zwei Jahren hatte der Jugendhilfeausschuss mit Stimmen der Grünen und der CDU beschlossen, dass die Spielplatzschilder nicht mehr zeitgemäß seien. Daraufhin sollten Kinder und Jugendliche beim Design für das neue Schild mitmachen. Eine Grafik wurde beauftragt und bastelte ein buntes Schild, mit Kindern und Jugendlichen bei unterschiedlichen Aktivitäten: Sandspielplatz, Turngerät, Ballspiel, Skateboard. Und wer auch immer fand dafür das Wort „Spiel- und Aktionsfläche“. Kosten der Entwicklung: 38.000 Euro.

Bunte Illustration mit Kindern und Jugendlichen beim Sandspielen, Skaten, Turnen, Ballspielen.

Was Kinder und Jugendliche nicht gefragt wurden: wie zufrieden sie mit den Spiel- und Bolzplätzen in ihren Wohnvierteln sind und was sie dort verbessert sehen möchten. Hier hätten die 38.000 Euro gut investiert werden können.

Offenbar waren die Beteiligten in einem Denk-Tunnel gefangen, bei dem sie nur noch nach einem Wort und Schild suchten, das sie gleichermaßen vor eine Halfpipe wie vor einen Sandkasten stellen können. Die eigentlichen Probleme mit Spielplätzen, Bolzplätzen und anderen Freiräumen für Kinder und Jugendliche in der Stadt waren darüber in Vergessenheit geraten.

Kleiner Faktencheck zum Spielplatz

Spielplatz ist ein Begriff des Grundwortschatzes A1 und wird von allen verstanden. Spiel- und Aktionsfläche ist nicht nur länger, sondern auch schwerer verständlich, also eher exkludierend.

Mein Sohn ist in Köln geboren und aufgewachsen. Bei uns im Viertel gibt es einen Park mit drei kleinen Spielplätzen: einer für Babys und Kleinkinder, einer für Kinder, einer für große Kinder und Jugendliche. Außerdem gibt es einen Skate-Parcours und eine Wiese, auf der Menschen jeden Alters und jeder Hautfarbe Fußball spielen. Schulkinder nutzen den Park als Ganzes als Abenteuerspielplatz. Andere joggen dort, gehen spazieren, lesen auf der Bank ein Buch, feiern Kindergeburtstag, gehen mit dem Hund raus. Falls im Winter im Köln mal Schnee liegt, wird der kleine Hügel die Schlittenbahn. Ich nenne diesen Park liebevoll Dorfgarten. Bisher wussten alle von ganz alleine, welcher Ort für welche Altersgruppe geeignet ist. Selbstverständlich waren dort, wo kleine Kinder spielten, Erwachsene, die diese beaufsichtigten.

Nicht alle Veedel sind so gut mit Spielplätzen versorgt wie meine Wohngegend. Oft fehlen Spielgeräte, sind kaputt oder auf Bolzplätzen fehlen Körbe und Tore. Funktionierende Räume für Kinder und Jugendliche zu schaffen, das wäre sinnvoll und inklusiv.

Freibad Büren mit verstörendem Plakat gegen sexuelle Belästigung

Fast zeitgleich machte das Schwimmbad in der NRW-Gemeinde Büren in ganz Deutschland und international Schlagzeilen. Ein Plakat, das gegen sexuelle Belästigung sensibilisieren soll, sorgte für Empörung. Eine Weiße Frau mittleren Alters fasst unter Wasser einem dunkelhäutigen Jungen mit Beinprothese an den Hintern. Der Vorwurf: Täter-Opfer-Umkehr. Nach der Empörungswelle entfernte die Stadt Büren das Plakat.

Illustration von Szene im Schwimmbecken. Rothaarige Frau mittleren Alters fast dunkelhäutigen Jugnen mit Beinprothese an Hintern. - Dazu eine Sprechblase: Stopp! Grapschen verboten.

Aus der Rechtfertigung und Entschuldigung der Stadt Büren lese ich, dass das passiert ist, was ich vermutet habe: Die haben es gut gemeint, aber sch… gemacht. Ich habe zahlreiche Workshops und Beratungen zu inklusiver Kommunikation gemacht, auch zur Bildsprache. Und dort erkläre ich immer: Ja, brich mit Stereotypen. Aber sei achtsam. Wenn du übertreibst, wird es zur Karikatur und erreicht das Gegenteil. Genau das ist hier passiert.

Faktencheck zu sexuellen Übergriffen im Schwimmbad

Die Daten des Bundeskriminalamtes zeigen: Weit über 90 Prozent der sexuellen Übergriffe in Schwimmbädern werden durch biologisch männliche Personen verübt. Konkret: 423 Sexualdelikte in Schwimmbädern. Von den 367 ermittelten Tatverdächtigen sind 365 männlich. Bei solchen Zahlen eine Frau als Täterin darzustellen wirkt tatsächlich wie eine Täter-Opfer-Umkehr.

Viel wirksamer wäre es, die Botschaft „Grapschen verboten“ für sich stehen zu lassen, zum Beispiel mit geschlechtslosen Piktogrammen und mehrsprachigem Appell: Don’t touch. Grapschen verboten. Afferrare vietato. Yasak kapma. الاستيلاء على الممنوع

Ich habe sogar eine Bildidee, wie das diskriminierungsfrei gelingen kann. Leider wollte keine der ausprobierten KI-Modelle mein Bild im Kopf umsetzen. Liegt womöglich an Verboten, was KI alles nicht visualisieren darf.

Provokation: Empörung als Strategie für Aufmerksamkeit

Gerade im Politikbetrieb wird so manche Empörung strategisch genutzt, um Aufmerksamkeit für die eigene politische Agenda zu erreichen. Das dürfte einerseits für die gelten, die jede Hitzewelle und jeden Sturm als Folge des Klimawandels bezeichnen, so als habe es früher weder Stürme, noch Überflutungen, noch Hitzewellen gegeben. Und es dürfte ebenso für einen FDP-Chef Christian Dürr gelten, der am 1. Juli 2025 an die Adresse der Grünen gerichtet auf der Plattform X postete:

Christian Dürr: Liebe Grüne, es nervt! Hört bitte auf bei Hitze im Sommer (und bei Regen) eure gesamte Klimaerzählung zu posten. Wir haben gerade, wie man früher sagte, sehr schönes Wetter. Und ja, es gibt den Klimawandel und wir müssen gegensteuern. Populismus bringt uns aber nicht zum Ziel.

Der Shitstorm „schönes Wetter“ folgte prompt mit polarisierten und polarisierenden Reaktionen. Dürr ist Medienprofi genug, um vorherzusehen, dass er mit einer solchen Bemerkung genau das auslösen wird, einen populistischen Schlagabtausch, aber sicher keine Sachdebatte. Es ist also scheinheilig, Populismus zu kritisieren und gleichzeitig Populismus zu betreiben.

Ich wünsche mir von allen Politiker*innen: Weniger populistischen Lärm, weniger Symbolpolitik und mehr Ärmel hochkrempeln und die Probleme anpacken: ob Klimawandel, Geschlecht und Gender, Migration oder Bildung. Es ist ja nicht so, dass wir keine Probleme hätten.

Regenbogenfahnen und Sprachvorschriften sind nicht das Kernproblem, um das sich Politik kümmern sollte.

Empörung als Folge von Misstrauen, Halbwissen und Widersprüchlichkeiten

Andere Shitstorms resultieren aus Widersprüchlichkeiten oder Halbwissen in Verbindung mit grundlegendem Misstrauen und erfahrener Diskriminierung in der Vergangenheit.

Beyoncé mit T-Shirt der Buffalo Soldiers

Die Sängerin Beyoncé trug während eines Konzertes am 19. Juni 2025 in Paris ein T-Shirt mit einem Aufdruck der „Buffalo Soldiers“, einer Einheit Schwarzer in der US-Armee. Auf der Rückseite werden Indigene mit Kriminellen gleichgesetzt:

their antagonists were the enemies of peace, order and settlement: warring Indians, bandits, cattle thieves, murderous gunmen, bootleggers, trespassers, and Mexican revolutionaries.

Aufdruck auf T-Shirt Buffalo Soldiers von Beyoncé

Das löste nachvollziehbar Empörung aus, besonders bei Indigenen, deren Verbänden und Historiker*innen. Ob Beyoncé nicht so genau gelesen hat, was auf ihrem T-Shirt steht, oder ob ihr klar war, dass sie damit nicht nur die Leistung Schwarzer Menschen ehrte, sondern auch andere marginalisierte Gruppen diffamierte, kann ich nicht beurteilen.

Aufregung um Umbenennung Südtiroler Berghütten

Ein weiterer Shitstorm brandete los, weil der Alpenverein Südtirol vorgeschlagen hat, Berghütten in Südtirol einheitlich Südtiroler Namen zu geben. Damit handelte er sich prompt den Vorwurf ein, er wolle einen Teil der alpinen Geschichte auslöschen.

Hintergrund: Viele der Berghütten haben Namen, die historisch gewachsen sind und sich an ehemaligen Betreiber-Organisationen dieser Hütten orientieren. Da gibt es die Kasseler oder die Regensburger Hütte, die Leipziger, die Zwickauer oder Stettiner Hütte.

Ein Gast aus Japan wird sich fragen, warum in Südtirol eine Kasseler Hütte steht. Ein Südtiroler Name jedoch ist für jeden verständlich und begreiflich.

Ingrid Beikircher, Vizepräsidentin Alpenverein Südtirol, im Spiegel-Interview

Manche Hütten haben zwei verschiedene Namen. Auch das verursacht Probleme. Die Kasseler Hütte etwa heißt auf italienisch Rifugio Roma, nach der Sektion Rom des italienischen Alpenvereins, der sie nach dem 1. Weltkrieg betreute. Seit 1998 ist das Land Südtirol für die Hütte zuständig. Für die Kasseler Hütte schlägt Ingrid Beikircher, Vizepräsidentin des Alpenvereins Südtirol vor, sie nach ihrem Hausberg zu benennen, auf Deutsch wäre das Hochgallhütte, auf Italienisch Rifugio Col’Alto.

Andere Hütten haben problematische Figuren in einem ihrer zwei Namen.

Die Dreizinnenhütte heißt auf Italienisch Refugio Locatelli, benannt nach dem Faschisten Antonio Locatelli. Hier schlagen wir vor, Rifugio Locatelli zu streichen und die Hütte im Italienischen Rifugio Tre Cime und auf Deutsch Dreizinnenhütte zu nennen, weil sie dort eben steht: an den Drei Zinnen.

Ingrid Beikircher, Vizepräsidentin Alpenverein Südtirol, im Spiegel-Interview

Es gibt also gute Gründe für neue Namen im Sinne des Tourismus-Marketings und der Verständlichkeit. Dagegen stehen Misstrauen, Angst vor Bedeutungsverlust oder einfach nur vor Veränderung in einer Welt, die sich ohnehin rasant verändert.

Und so geht in einem Gemisch aus persönlichen Befindlichkeiten und Befürchtungen zusammen mit Misstrauen, Halbwissen und Unterstellungen die Empörung los.

Kampf um Deutungshoheit und Macht und der Streisand-Effekt

Und dann gibt es die Sorte Shitstorms, die ich besonders heikel finde: Es sind die, bei denen es darum geht, wer überhaupt publizieren darf, wer gehört und wer gecancelt wird. Hier sind es oft orchestrierte politisch-aktivistische Gruppen, die auf einzelne Personen losgehen und es als Teufelszeug werten, wenn diesen eine Bühne gegeben wird. Heikel finde ich das, weil es unsere demokratisch-freiheitlichen Prinzipien einer offenen Debatte angreift.

Leykam-Verlag cancelt Gertraud Klemm

Der österreichische Leykam-Verlag hatte die preisgekrönte Autorin und Feministin Gertraud Klemm eingeladen, an dem feministischen Sammelband Das Pen!smuseum mitzuwirken. Weil Klemm eine bekannte Schriftstellerin ist, wurde das Buch, das im September erscheinen soll, mit ihrem Namen auf dem Cover des Buches beworben.

Daraufhin folgten auf Instagram Proteste gegen Klemm aus dem queer-aktivistischen Spektrum. Der Grund: Sie hatte in der Zeitung Standard zwei Texte veröffentlicht, in denen sie sich kritisch damit auseinandersetzte, dass das Wort „Frau“ in manchem Kreisen unter Generalverdacht steht, vermieden oder durch Akronyme wie FLINTA ersetzt wird. Klemm wurde vorgeworfen, eine TERF zu sein.

Was bedeutet FlINTA? Was bedeutet TERF.?

FLINTA ist ein Akronym aus dem identitätspolitischen Kontext. Es steht für Frauen, Lesben, Intergeschlechtliche, Non-Binäre, Transpersonen, Asexuelle. In dieser Sprachlogik gibt es FLINTA und Männer.

TERF ist ein Akronym, mit dem vornehmlich Frauen beschimpft werden, die einen Unterschied zwischen biologischen Frauen und Transfrauen machen. Es steht für Trans-excluionary Radical Feminist.

Der Leykam-Verlag reagierte prompt, löschte Klemm vom Titel und schmiss ihren Beitrag aus dem Sammelband. Das hat die Empörung eher gesteigert. Andere Autor*innen, Feministinnen und weitere Leute stellten sich hinter Klemm und warfen Leykam vor, vor einem Internet-Mob eingeknickt zu sein. Tagelang wurde in Österreich, aber auch in deutschen Medien darüber geschrieben, in der Regel zum Nachteil des Leykam-Verlages.

Dumm war es allemal: Die Positionen von Klemm waren bekannt. Also entweder kommt der Verlag von Anfang an zu dem Schluss, dass in dem Buch nur eine feministische Perspektive Platz bekommen soll und lädt Klemm erst gar nicht ein. Oder er steht zur Vielfalt feministischer Perspektiven und stellt sich hinter seine Autorin.

Streisand-Effekt

Der Streisand-Effekt bezeichnet folgende Situation: Im Versuch, eine unliebsame Information zu unterdrücken, wird die öffentliche Aufmerksamkeit erst angekurbelt und die massenhafte Verbreitung ebendieser Information gefördert.

Der Begriff geht zurück auf die Sängerin und Schauspielerin Barbra Streisand. 2003 hatte sie den Fotografen Kenneth Adelman und Pictopia.com erfolglos auf Zahlung von 50 Millionen US-Dollar Schadensersatz verklagt. Er hatte bei Luftaufnahmen der Küste Kaliforniens bei einigen Häusern hervorgehoben, wem die Anwesen gehören, unter anderem das von Streisand. Streisand sah die Sicherheit ihrer Person und ihrer Familie gefährdet und klagte. Vor der Klage war das Foto nur wenige Male heruntergeladen worden. Durch die Klage wurde die Öffentlichkeit aufmerksam und das Foto verbreitete sich lawinenartig.

Zeit depubliziert Maxim Biller

Einen Streisand-Effekt par excellence löste die Zeit aus, als sie einen Beitrag des jüdisch-deutschen Schriftstellers Maxim Biller erst publizierte und ihn dann von der Online-Ausgabe unter der Bezeichnung „depublizieren“ wieder löschte. Depublizieren, ein Wort, das ich bis dahin nicht kannte, und welches das Zeug zum Unwort des Jahres hat.

Auch ich bin, wie viele andere, erst durch das Löschen von Billers Beitrag auf den Text aufmerksam geworden. Überall las ich Kommentare, die über den Text von Biller urteilten und hatte das Bedürfnis, den Text zu lesen, um die Urteile einordnen zu können. Und natürlich war der Text noch da, nicht nur in der Printausgabe, auch in der archivierten Online-Version. Und wurde massenhaft verbreitet.

Unter dem Titel „Morbus Israel“ kritiserte Biller in einer für ihn typisch scharfen Sprache die komplizierte Beziehung der Deutschen zu Israel und Israelkritik. Er beginnt und endet mit einem Witz und teilt kräftig aus.

Darin beschäftigt sich Biller mit dem aus seiner Sicht pathologischen Verhältnis vieler Deutscher zu Israel. Er sieht in ihnen „Täterenkel“ mit schlechtem Gewissen. Biller meint Leute wie Markus Lanz, der „die Israelis als mittelalterliche Kindermörder und moderne Kriegsverbrecher überführen“ wolle. Andere, wie Tilo Jung oder den SPD-Politiker Ralf Stegner, sieht Biller auf einem „pathologischen, psychisch bestimmt sehr belastenden Anti-Israel-Horrortrip“.

Anne From in der taz am 1. Juli 2025

Die Empörung entzündete sich an zwei Passagen. In der einen bezeichnet Biller die Hungerblockade Gazas als „unmenschlich“ aber „strategisch richtig“. In der anderen macht er einen Witz über einen verzweifelten israelischen Soldaten, dem er Arzt rät, er könne aufhören auf Araber zu schießen, er würde es ihm aber nicht empfehlen.

Wenn jemand eine so scharfzüngige Kolumne schreibt, ist die Empörung voraussehbar. Und oft ja gewollt, denn es schafft Reichweite und damit Umsatz. Die Zeit begründete das „Depublizieren“ damit, dass ihr da was durchgerutscht sei, aber ohne klar zu benennen, was und wie.

Unabhängig davon, wie ich inhaltlich zur Kolumne von Biller stehe, halte ich es für falsch, sie erst zu veröffentlichen und dann wieder zu löschen. Der Markenkern der Zeit bestand einmal darin, kontroverse Debatten zu führen, also auch harte Meinungen zu publizieren und im Pro und Kontra gegeneinanderzustellen. Unter diesem Aspekt war das „Depublizieren“ ein Angriff auf die eigene Marke.

Das muslimisch-jüdische Paar Saba-Nur Cheema und Meron Mendel kommentieren:

Hier stellt sich die Frage, was die „Zeit“ von ihren Lesern hält. Kann man das noch anders verstehen als Bevormundung, wenn man erklärt bekommt, dass einem ein bereits publizierter Text vorenthalten wird, weil er „problematisch“ sei? Nur den Text so zu bezeichnen, ersetzt ja kein sachliches Argument. Offenbar sieht sich die „Zeit“ aber davon befreit, jede Begründung oder sachliche Erläuterung für ihre Entscheidung zu geben. Paradoxerweise kommen die Kritiker und Verteidiger von Biller ausführlich zu Wort – allerdings in anderen Medien. Wäre es nicht souveräner gewesen, die Kritiker – innerhalb und außerhalb der „Zeit“-Redaktion – dazu einzuladen, ihre Argumente öffentlich zu machen, statt den Text zu löschen?

Saba-Nur Cheema und Meron Mendel in der FAZ am 1. Juli 2025

In der Folge nennen sie Beispiele von anderen polarisierenden Texten in anderen Medien und wie diese damit umgegangen sind, darunter den umstrittenen Text von Hengameh Yaghoobifarah 2020 in der taz mit dem Titel „All cops are berufsunfähig“, auf den die Polizeigewerkschaft mit Strafanzeige reagierte.

Die „taz“ entschied sich gegen eine Löschung und eröffnete stattdessen – wie Chefredakteurin Barbara Junge ankündigte – eine „redaktionsinterne, aber offen geführte Debatte über die Kolumne“. Dabei kamen unterschiedliche, teils gegensätzliche Positionen zur Sprache. Einige spotteten, die Redaktion habe sich öffentlich zerfleischt. Wir hingegen empfanden das Vorgehen als souverän und authentisch. Die Vielfalt der Meinungen ermöglichte es auch uns, eine eigene Haltung zu der Sache entwickeln. Als Leser kann man sich dadurch ernst genommen fühlen – wir dankten mit einem Abo.

Saba-Nur Cheema und Meron Mendel in der FAZ am 1. Juli 2025

Cool bleiben in einer empörten Welt

Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist. Alle hier beschriebenen Shitstorms und Empörungswellen beziehen sich auf den Zeitraum Anfang Juni bis Anfang Juli 2025. Und während ich diese Zeilen schreibe, jagen schon wieder die nächsten Empörungswellen durch das Netz. Ein Shitstorm folgt dem nächsten. Auf der Strecke bleibt die sachliche Auseinandersetzung, das Differenzieren, das Zuhören und Argumentieren und der Versuch, gemeinsam Lösungen finden zu wollen oder auch nur in aller Friedlichkeit zu entscheiden: Wie agree to disagree.

Wenn ich diese vielen Shitstorms Revue passieren lasse, denke ich mir: Wir sollten uns alle weniger aufregen und uns stattdessen mehr mit der Sachebene befassen.

Wir leben in einer Zeit, in der kleine Entscheidungen oder Aussagen große Wellen schlagen können. Die Wellen lassen sich nicht verhindern. Aber vieles lässt sich vorhersehen, so dass eine Organisation in der Vorbereitung erwartbarer Kritik den Wind aus den Segeln nehmen und vorbereitet reagieren kann.

Als Tipp zum Abschluss, egal ob du Einzelperson bist, es um dein Team geht oder um eine ganze Organisation:

  1. Don’t feed the Crybully. Der Crybully ist eine Art Weiterentwicklung des Trolls. Er inszeniert sich maximal als Opfer, um anderen zu schaden.
  2. Bleib cool. Beziehungsweise: Kühle zunächst die Gefühle herunter, prüfe Fakten, denke nach und entscheide mit Vernunft und klarem Verstand, was du tust.
  3. Humor hilft. Ich bin rechts- und linksextrem in einer Person. Deshalb schließe ich mit Monty Python. John Cleese beschreibt die Vorzüge von Extremismus:

Verwendete Quellen

Angela Lehner: Literaturdebatte: Es darf nicht nur einen Feminismus geben!, Zeit online, 8. Juni 2025, https://www.zeit.de/kultur/2025-06/gertraud-klemm-feminismus-trans-personen-leykam-verlag-debatte

Anne Fromm: Verhältnis der Deutschen zu Israel. Streit bei „Zeit“ über Löschung der Maxim-Biller-Kolumne, taz, 1. Juli 2025, https://taz.de/Verhaeltnis-der-Deutschen-zu-Israel/!6097567/

Caché McClay: What to know about Beyoncé’s Buffalo Soldiers T-shirt and their complicated role in history, USA today, https://eu.usatoday.com/story/entertainment/music/2025/07/04/beyonce-buffalo-soldiers-shirt-backlash-expert-cowboy-carter/84450994007/

Christian Dürr: Schönes Wetter, 1. Juli 2025, https://x.com/christianduerr/status/1939935921152950400

Jan-Frederik Wendt: Klimawandel: FDP-Chef Dürr wirft Grünen „Populismus vor“ – Neubauer mischt sich ein, Merkur, 3. Juli 2025, https://www.merkur.de/politik/klimawandel-fdp-chef-duerr-wirft-gruenen-populismus-vor-neubauer-mischt-sich-ein-zr-93811763.html

Michael Hanfeld: Maxim Biller und die „Zeit“: Der Kolumnist soll bleiben, FAZ, 4. Juli 2025, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien-und-film/medienpolitik/maxim-biller-und-die-zeit-der-kolumnist-soll-bleiben-110575456.html

Michael Wurmitzer: Buchbranche in Aufregung. Leykam-Verlag wirft Autorin Klemm wegen Aussagen zum Wort „Frau“ aus Buch, Der Standard, 7. Juni 2025, https://www.derstandard.at/story/3000000273176/leykam-verlag-wirft-autorin-klemm-wegen-aussagen-zum-wort-frau-aus-buch

Miriam Khan: Alpendebatte in Südtirol »Es wurden schon ganze Staaten umbenannt. Aber bei ein paar Hütten regt sich die halbe Welt auf«, Spiegel, 1. Juli 2025, https://www.spiegel.de/reise/europa/alpen-will-suedtirol-die-deutschen-namen-seiner-berghuetten-loswerden-a-77b8b2aa-e213-4d74-975c-48db169e1a28?utm_source=firefox-newtab-de-de

NTV: Vorwurf von Täter-Opfer-Umkehr. Freibad-Poster in Büren schlägt hohe Wellen, 4. Juli 2025, https://www.n-tv.de/mediathek/videos/panorama/Freibad-Poster-in-Bueren-schlaegt-hohe-Wellen-article25880024.html

Oliver Auster: Weil es angeblich Menschen ausgrenzt: Köln schafft das Wort „Spielplatz“ ab, Bild-Zeitung, 2. Juli 2025, https://www.bild.de/politik/inland/angeblich-ausgrenzend-koeln-schafft-den-begriff-spielplatz-ab-6864f9fd5ccab23ab11a7185

Saba-Nur Cheema und Meron Mendel: Muslimisch-jüdische Kolumne : Löschen ist keine Lösung, FAZ, 1. Juli 2025, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kolumnen/muslimisch-juedisches-abendbrot/saba-nur-cheema-und-meron-mendel-zu-maxim-billers-zeit-kolumne-loeschen-ist-keine-loesung-110569340.html

Sigi Lieb auf Linkedin: Inklusion falsch verstanden, 3. Juli 2025 https://t.ly/odl1Z

Spiegel: Verunglimpfung von Indigenen und Mexikanern Beyoncé löst mit T-Shirt Debatte über Darstellung amerikanischer Geschichte aus, 30. Juni 2025, https://www.spiegel.de/panorama/leute/beyonce-loest-mit-t-shirt-der-buffalo-soldiers-kritik-aus-a-e6220ebc-2011-48cc-ba7f-3014d0b0a433

Tagesschau via WDR: Nordrhein-Westfalen In Zukunft kein „Spielplatz-Schild“ mehr in Köln? Reker dagegen, 3. Juli 2025, https://www.tagesschau.de/inland/regional/nordrheinwestfalen/wdr-in-zukunft-kein-spielplatz-mehr-in-koeln-stadt-tauscht-schilder-aus-100.html

Till Randolf Amelung: Bedenken sind im Queerfeminismus tabu, Ruhrbarone, 7. Juni 2025, https://www.ruhrbarone.de/bedenken-sind-im-queerfeminismus-tabu/247078/

Veronika Arnold: Deutsche Berghütten in Südtirol: Alpenverein fordert neue Namen – Protest folgt, Merkur, 9. Juli 2025, https://www.merkur.de/welt/deutsche-berghuetten-in-suedtirol-alpenverein-fordert-neue-namen-protest-folgt-zr-93810716.html

Welt: Stadt verteidigt Freibad-Kampagne – Plakat mit grapschender Frau abgehängt, 4. Juli 2025, https://www.welt.de/vermischtes/article256346384/bueren-stadt-verteidigt-freibad-kampagne-plakat-mit-grapschender-frau-abgehaengt.html

 Frau mit langen braunen Haaren und Mütze, den Kopf in die Hand gestützt, lächtelt in Kamera. Vor ihr aufgestellt mehrere Exemplare des Buches "Alle(s) Gender" von Sigi Lieb

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Shitstorm Debatte, Demokratie und Medien, Diversity und Kommunikation
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