Wir sitzen vor der taz-Kantine in Berlin, trinken Radler und freuen uns auf die bevorstehende Book-Release-Party vom Jahrbuch Se?ualitäten 2025. Da fahren zwei schwarze Limousinen vor. Wir wundern uns. Es ist der Polizeischutz von Seyran Ateş, die später einen der Beiträge aus dem Sammelband zu LGBTIQA-Themen vorstellen wird. Dazu später mehr. Falls du dich wunderst, warum ich den Buchstaben X aus dem Buchtitel mit Herzchen überklebt habe und Fragezeichen setze: Ich habe wiederholt die Erfahrung gemacht, dass US-getriebene Plattformen die Verbreitung behindern, sobald das Wort mit den drei Buchstaben, die mit S beginnen und mit X aufhören, auftaucht, auch dann, wenn es sich um seriöse Fachinhalte handelt. Nun also zum Buch und zur Rezension, mit Einsprengseln aus der Book-Release-Party.
10 Jahre Jahrbuch Se?ualitäten
Auf der Bühne sitzen Jan Feddersen und Rainer Nicolaysen, zwei der drei Herausgeber*innen des Jahrbuchs Se?ualitäten, das 2025 zum zehnten Mal erscheint, und ein Ehepaar. Sie präsentieren die zehnte Ausgabe gemeinsam und gestehen: Es ist ihre erste gemeinsame Moderation.
Unterstützt werden sie von einer Reihe Erstleser*innen, die jeweils einen Buchbeitrag vorab bekommen haben und diesen nun vorstellen. Präsentiert werden unterschiedliche Themen, Perspektiven und Meinungen aus dem gesamten LGBTIQA-Themenfeld. Mit Stolz erzählen sie, dass die Buchreihe in vielen Bibliotheken auf allen fünf Kontinenten verfügbar ist.
Das Jahrbuch Se?ualitäten möchte ein Ort der Debatte und politischen Begegnung sein. Es will Debatten anstoßen, führen, begleiten, weiterdrehen. Der Themenbereich erstreckt sich von Adorno bis Zoose?ualität. Diskutiert wird die Situation von LGBTIQA in Deutschland und in anderen Ländern, in der Geschichte und heute. Außerdem gibt es auch kulturelle Beiträge und Einblicke in einzelne Szenen.
Streit unter dem Regenbogen
Wie schon in den Ausgaben 2023 und 2024 setzen sich auch im Jahrbuch Se?ualitäten 2025 mehrere Beiträge mit Konflikten innerhalb der LGBTIQA-Community in den westlich-demokratischen Gesellschaften auseinander. Kaum bemerkt und noch weniger verstanden von der Mehrheitsgesellschaft ist der Regenbogen tief gespalten. Teilweise fehlt es an der Fähigkeit und dem Willen, sich überhaupt mit anderen Perspektiven und Meinungen zu befassen.
Ich investiere viel Arbeitszeit in meine Blogbeiträge, beachte journalistische Kriterien und stelle viel weiterführende Information zur Verfügung. Das alles stelle ich kostenlos für alle zur Verfügung – ohne bezahlte Werbung auf meiner Seite. Aber natürlich muss auch ich im Supermarkt mit Euros bezahlen. Daher freue ich mich, wenn du meine ehrenamtliche redaktionelle Arbeit unterstützt.
In diese Gruppe gehört der Essay von Kerstin Söderblom, eine Pastorin und Lesbe. Sie schreibt darüber, wie sie in der Lesbenszene nicht ganz akzeptiert wurde, weil sie Vertreterin der Kirche ist. Und wie sie in der Kirche nicht ganz akzeptiert wurde, weil sie Lesbe ist. Aus dieser biografischen Erfahrung heraus lotet sie Zwischenräume und Ambiguitäten aus, die auch in aktuellen Konflikten zwischen queer-aktivistischen, radikal-feministischen und weiteren Perspektiven und Positionen in der LGBTIQA-Community helfen können.
Der Text erzählt anhand biografischer Erlebnisse nachvollziehbar Beschränkungen, Vorurteile, Interessen und Konflikte in lesbischen Räumen. Das ist gut. Was mir fehlt, ist ein Gleichgewicht in der Kritik gegenüber radikal-feministischen und queer-aktivistischen Positionen. Dadurch wirkt der Beitrag, der doch Zwischenräume der Verständigung ausloten möchte, etwas einseitig pro Queer-Aktivismus.
Vorgestellt wird der Beitrag von Philipp Gessler, der diese von mir empfundene Verzerrung nicht erwähnt. Es wäre also interessant, über diese Unruhen und Feinheiten zwischen den Zeilen, die mir als ungleich erscheinen, zu debattieren. In gegenseitigem Respekt. Und dafür setzt sich Söderblom ein. Sie betont, wie wichtig es ist, unterschiedliche Positionen auszuhalten.
‚We agree to disagree!‘ – Wir sind uns einig, dass wir uns nicht einig sind. Es ist manchmal schwer erträglich und dennoch zumeist der einzige Weg, um miteinander im Gespräch zu bleiben.
Kerstin Söderblom, Jahrbuch Se?ualitäten 2025, Seite 31
Vojin Saša Vukadinović beleuchtet den Streit unter dem Regenbogen von der schwulen Seite. Er schreibt über die „Entschwulung der Welt“ und erzählt davon, wie in identitätspolitisch geprägten Debatten Schwule plötzlich nicht mehr eine diskriminierte Minderheit sind, sondern zu privilegierten Tätern umdefiniert werden, zu alten weißen Cis-Männern. Vorgestellt wird Vukadinovićs Beitrag auf der Release-Party von Dirk Sander, der die Inhalte des Buchbeitrags mit eigenen Erfahrungen bestätigte und ergänzte.
Verfolgung und Homophobie in Georgien
Zaal Andronikashvili ist Literaturwissenschaftler mit einem Schwerpunkt auf Georgien und Osteuropa. Sein Beitrag „Die neuen Kleider des Patriarchats. Kulturelle, politische und geopolitsche Homophobie“ erklärt in drei Abschnitten die Entwicklungen für LGBTIQA-Personen in Georgien und wie Homophobie eine politische Schlüsselrolle einnehmen konnte.
Im ersten Teil analyisert er die Geschichte und Ursachen der Homophobie georgischer Prägung. Im zweiten beleuchtet er ihre politische Instrumentalisierung im postsowjetischen Georgien. Im dritten untersucht er die kulturellen Wurzeln anti-westlicher Homophobie.
In Georgien dominiert eine Kultur der heteronormativen Familie. Und alles, was dieser Tradition widerspricht gilt als verdächtig. Erstleser Stephan Wackwitz lebte selbst eine Zeit lang in Tiflis und bereicherte die Vorstellung des Buchbeitrags mit einer persönlichen Erfahrung in einem Land, welches er einerseits als extrem gastfreundlich erlebte und in dem er schockierenderweise erlebte, wie Leute Jagd auf Homosexuelle machten.
Transsexualität im Nationalsozialismus
Der für mich herausragendste Beitrag dieses Sammelbandes ist der des Historikers Alexander Zinn, der unter der Überschrift „Auch ich war ein Mann. Adolf/Hertha Winds unermüdlicher ‚Kampf um das Frausein'“ detailreich und mit vielen Quellen das Leben von Wind nachzeichnet. Wind wurde 1897 als Adolf Wind geboren und starb 1972 als Hertha Wind. Vorgestellt wurde der Beitrag von Transmann Till Randolf Amelung.
Wind war verheiratet und zweifacher Vater, als sier Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre eine Verwandlung zur Frau vorantrieb, um ein soziales Leben als Frau zu führen. 1931 entfernte ein Arzt Wind die Hoden und pflanzte Eierstöcke ein. Im Oktober 1935 erlaubte siem die Frankfurter Polizei, in der Öffentlichkeit Frauenkleider zu tragen. 1936 schaffte es Wind, seinen Namen in den geschlechtsneutralen Namen Toni zu ändern.
Nach weiteren geschlechtsangleichenden Operationen erreichte Wind 1939, dass sier im alltäglichen Leben die Bezeichnung Frau führen durfte. In der Geburtsurkunde durfte Wind den Eintrag allerdings nicht ändern. Das gelang Wind 1947 im Nachkriegsdeutschland, so dass Wind den Namen in Hertha und den Geschlechtseintrag in weiblich geändert bekam.
Besonders wertvoll ist der Beitrag, weil er zeigt, wie ambivalent die Nationalsozialisten mit dem Phänomen des Transvestitismus und der Transssexualität umgingen. Und auch, wie die Medizin in dieser Zeit das Thema diskutierte und behandelte. Die genaue Darstellung gemäß historischer Quellen zeigt, wie verzerrt aktuelle Narrative zu diesem Thema sind.
Gleichzeitig relativiert ihr Beispiel, die verbreitete Annahme, Transsexuelle seien von den Nationalsozialisten grundsätzlich verfolgt worden. Zwar ist ihr Fall – neben dem des Wiener Homosexuellen Hinrich B. – der bislang einzige belegte einer Geschlechtsumwandlung während der NS-Zeit. Doch er dokumentiert eindrücklich den widersprüchlichen Umgang des NS-Regimes mit dem Phänomen des Transvestitismus, der von Duldung und Anerkennung bis hin zu Psychiatrisierung und strafrechtlicher Verfolgung reichte.
Alexander Zinn, Jahrbuch Se?ualitäten 2025, Seite 53
Trotz Widersprüchlichkeiten im Einzefall sieht Zinn eine klare Tendenz, wie sie auch Trans-Aktivistin Eva Fels, die er zitiert, beschreibt: Zwar standen Transvestiten während des NS-Regimes generell unter Homosexuellenverdacht. Verfolgt aber wurde in erster Linie schwule Homosexualität, egal ob mit Hose oder Rock.
Pride Flag oder Progressive Pride Flag: Was macht den Unterschied?
Till Randolf Amelung war nicht nur Erstleser, sondern hat auch selbst einen Text geschrieben. Sein Beitrag „Zur Kritik der Progressive Pride Flag“ befasst sich mit der Entstehungsgeschichte der Regenbogenflagge und ihrer Umwandlung und Vervielfältigung in die veschiedenen Varianten der sogenannten Progressive Pride Flag.
Erfunden wurde die Pride Flag 1978 von dem US-amerikanischen schwulen Designer Gilbert Baker. Er wollte ein positives Symbol schaffen. Bis dahin gab es nur den Rosa Winkel, der zwar als Ermächtigung benutzt wurde, aber eben auch das Symbol war, mit dem im nationalsozialistischen Deutschland Schwule in Konzentrationslagern markiert wurden.
Der Regenbogen gilt als Symbol der Hoffnung, war assoziiert mit dem Song von Judy Garland „Somewhere over the Rainbow“, ein Lied mit hoher emotionaler Bedeutung für Homosexuelle zur Zeit des Stonewall-Aufstandes 1969. Die Regenbogenflagge wurde schnell akzeptiert und zum internationalen Symbol für diskriminerte Minderheiten und globales Bekenntniszeichen für progressive Werte.
Ein wichtiges Erfolgsrezept sei gewesen, dass Bakers Entwurf über Ländergrenzen, sexuelle Orientierungen und politische Affilationen hinweg adaptierbar wurde. Der bisher verwendete Rosa Winkel repräsentierte vornehmlich männliche Homosexuelle. Die Regenbogenfahne hingegen adressierte keine Gruppe explizit.
Till Randolf Amelung, Jahrbuch Se?ualitäten 2025, Seite 121
Die Farben des Regenbogens stehen für universelle Werte wie Gesundheit, Liebe, Harmonie, Natur und Spiritualität. Werte, die Menschen, die anders liebten nicht oder nur in geringerem Maße offenstanden, obwohl sie doch allen Menschen gleichermaßen offenstehen sollten.
Die sogenannte Progressive Pride Flag wurde 2018 von Daniel Quasar erfunden und seither wurden zahlreiche weitere Varianten gestaltet. Ihnen gemein ist, dass sie in dem Dreieck, welches sich von links in den Regenbogen schiebt, jeweils einzelne Untergruppen benennen. Allerdings werden nirgendwo Schwule, Lesben und Bisexuelle erwähnt.
Amelung vertritt die These, dass diese Entwicklungen weder dem Regenbogensymbol noch dem Aktivismus guttun. Vorgestellt wird dieser Beitrag von der Erstleserin Seyran Ateş. Ateş verkörpert in Persona, wie Andersdenkende in diesem Land bedroht werden. Nicht vom Staat. Der Staat hat Ateş unter Polizeischutz zur Veranstaltung und wieder nach Hause gebracht.
Die Frau, Lesbe, Juristin, Menschenrechtlerin, Migrantin, Muslima und Imamin sagt, sie verstehe nicht, wie sich jemand nicht unter der Regenbogenflagge gesehen fühlen könne. Sie beschreibt das Dreieck als Keil, der sich spaltend in den Regenbogen schiebt.
Dabei präsentiert Ateş eine Anektode, die sie wenige Tage zuvor in Berlin erlebt hatte. Dort hatte sich Berlins Queer-Beauftrater Alfonso Pantisano am Rathaus gefeiert, weil dort die Progressive Pride Flagge gehisst wurde, die ja so inklusiv sei. Als Ateş für ihren Redebeitrag auf die Bühne kam, widersprach sie. Sie fühle sich als Frau, Lesbe, Migrantin, Muslima unter der Pride Flag wohl, unter der Progressive Pride Flag nicht.
Und wenn sie das sagt, werde sie von Fans der neuen Flagge mit dem spitzen Dreieck als „alter weißer Mann“ und „rechts“ beschimpft. Und sie korrigiert lachend: „alte weiße Frau“.
Wer ist Seyran Ateş?
Seyran Ateş geboren 1963 in Istanbul, Mutter Türkin, Vater Kurde, kam mit 6 Jahren nach Berlin. Sie verließ vor dem 18 Geburtstag ihr Elternhaus, machte Abitur, studierte Jura und jobbte in einer Beratungsstelle für türkische und kurdische Migrantinnen, die vor häuslicher Gewalt Schutz suchten. Dort wurde sie 1984 während einer Beratung von jemandem der rechtsextremen Grauen Wölfe lebensgefährlich verletzt, die Frau, die sie beraten hatte, wurde ermordet.
Ateş arbeite als Anwältin, Menschenrechtsaktivistin und wurde weiter bedroht. Sie ließ sich zur Imamin ausbilden und gründete 2017 zusammen mit anderen die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee, in der ein liberales Verständnis des Islam vertreten wird, Männer und Frauen gleichberechtigt und LGBTIQA-Menschen willkommen sind. Konservative und islamistische Kreise mobilisieren dagegen. Seither braucht sie rund um die Uhr polizeilichen Personenschutz.
(Mehr unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Seyran_Ate%C5%9F#Jugend und https://de.wikipedia.org/wiki/Ibn-Rushd-Goethe-Moschee und https://de.wikipedia.org/wiki/Seyran_Ate%C5%9F:_Sex,_Revolution_and_Islam.
Weitere Themen im Jahrbuch Se?ualitäten 2025
Und es gibt weitere lesenswerte Beiträge im Sammelband: Jan Feddersen spricht mit der Psychoanalytikerin Manuela Torelli. Ioannis Dimopulus denkt über die „Liebe als mimetische Weltbezüglichkeit im Werk Theodor W. Adornos“ nach. Chantalle El Helou entzaubert in „Nichts Neues zur Identitätspolitik“ zwei Texte von Karsten Schubert. Julia Kaiser befasst sich mit der Frage „Zoose?ualität – ein rein männlich zu lesendes Phänomen?“ Dennis Watson fragt: „Ist der Ledermann noch zeitgemäß?“ Schwester Daphne Sara Maria Sanguina Mater d’Or OSPI relfektiert in ihrem Beitrag „Schluss mit der Schuld!“ 25 Jahre als Teil der Schwestern der Perpetuellen Indulgenz und Aktivistin für queere Vielfalt. Es gibt einen Nachruf zu Jens Dobler, zwei Gedichte von Dinçer Güçyeter und vier Buchrezensionen. Viel Spaß beim Lesen!

Jahrbuch Se?ualitäten 2025
Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations von Jan Feddersen, Marion Hulverscheidt und Rainer Nicolaysen
Wallstein 2025
ISBN 978-3-8353-5917-8
Deutschland 34 Euro, Österreich 35 Euro
Hier geht es zum Verlag und zum Inhaltsverzeichnis/zur Leseprobe.
