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Bücher: Was ist deutsch? – von Dieter Borchmeyer

Buchtitel "Was ist deutsch?"

Wie hatte ich mich auf das Rezensionsexemplar gefreut: Da hat sich einer hingesetzt, in den Jahrhunderten gewühlt und sich mit der Frage beschäftigt: Was ist deutsch? – Als ich im Radio von diesem Werk hörte, wollte ich es sofort lesen. Das Ergebnis ist durchwachsen. Einerseits bin ich tief beeindruckt von dem zusammengetragenen Wissen. Andererseits wiegt nicht nur das Buch, sondern auch sein Inhalt schwer.

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Rezension:

1.200 g Papier, knapp 1.000 Seiten, eng bedruckt, geballtes Wissen über die deutsche Literatur-, Philosophie-, Kunst- und Soziologiegeschichte. Ich habe nicht gewusst, dass in den vergangenen Jahrhunderten so viele Texte und Bücher über Deutsche und das Deutschsein geschrieben wurden.

So viele Gedanken über das Deutschsein

Sind wir Deutsche tatsächlich so etwas Besonderes, dass Hinz und Kunz, aber auch Jean und Jeanne oder John und Mary quer durch die Jahrhunderte sich über das Wesen der Deutschen Gedanken machten und diese zu Papier brachten? Wow. Wie ist das mit anderen Kulturen und Nationen? Gibt es ebenso viele Bücher über das Wesen der Franzosen oder der Briten oder der US-Amerikaner? – Und das ist nur eine westzentrierte Sichtweise. Ehrlich gesagt: Ich habe keine Ahnung.

Was ist deutsch?, anders gefragt: Was ist französisch, britisch, persisch, russisch? Klick um zu Tweeten

Was ist deutsch? ist eine sehr deutsche Frage

Vielleicht ist die Frage im Buchtitel „Was ist deutsch?“ selbst schon das Deutscheste an dem Buch. Die Deutschen waren in puncto Nationalstaatsgründung echte Spätzünder und ohne Talent zur Nachhaltigkeit. Vor 1871 gab es überhaupt keinen deutschen Nationalstaat und seither hat er nie lange gehalten. Also das Fleckchen Erde, das Deutschland genannt wird, hat alle paar Jahrzehnte seine Fläche erheblich geändert. Das aktuelle Deutschland ist ja auch gerade 27 Jahre jung, gegründet mit der Wiedervereinigung 1990.

Dabei bezeichnet Deutsch in seinem linguistischen Ursprung ohnehin kein Volk sondern eine gemeinsame Sprache. „Deutsch ist ursprünglich ein Sprachbegriff, der die Zunge der Stämme Mitteleuropas bezeichnet“, schreibt Borchmeyer (S. 18). Ein Sprachraum. Warum machen sich dann trotzdem so viele Gedanken über das Wesen der Deutschen? Und was sagen die Österreicher, Schweizer, Südtiroler, Elsässer und Lothringer zu dieser Sprachraumthese?

Von der Weimarer Klassik bis zum wiedervereinigten Deutschland

Borchmeyer schreibt über die Weimarer Klassik, über deutsche Literatur und Musik, Philosophie und Soziologie. Er schreibt über Heine, Goethe und Schiller und ihren Vorstellungen des Deutschen als Weltbürger, jenseits einer nationalstaatlichen Identität. Und er beschreibt, was passiert, wenn man diesen übernationalen Weltbürger zum besseren Menschen stilisiert. Diese Überhöhung, so analysiert Borchmeyer, führte schließlich zum Nationalsozialismus.

Fichtes „Rede an die Deutschen“ ist in dem Buch ebenso verarbeitet wie Goethe, Schiller, Mann und Kant. Norbert Elias „Prozess der Zivilisation“ findet seinen Platz und Anne Louise Germaine de Staël, die im 19ten Jahrhundert die Deutschen und das Deutschsein aus französischer Perspektive analysierte. Twain, Nietzsche, Heine, Hegel, Kleist, Hugo Ball, Richard Wagner, Pestalozzi, Hölderlin, Humboldt, Karl Jaspers, Hans Pfitzner, Martin Walser, Oskar Goldberg, Hermann Cohen, Tuchosky, Brecht …

Einerseits ist die Buchlektüre wirklich interessante Kulturgeschichte. Andererseits habe ich als Leserin manchmal das Gefühl, das ich bei diesem Namedropping irgendwie vergessen wurde. Innerlich ziehe ich meinen Hut vor der Belesenheit des Autors. Äußerlich strengt mich die Lektüre an und ich verliere die Lust am Lesen.

Das Sein ohne nationale Identität

Mehr als 130 Seiten widmet Borchmeyer der Beziehung von Deutschtum und Judentum und dem Zwiespalt zwischen einem Sein um seiner selbst Willen und einer Überhöhung dieses Selbsts als auserwähltes Volk. Nicht ganz so viele, aber immerhin 25 Seiten, widmet er dem wiedervereinigten Deutschland. Ich werde diese beiden Kapitel noch lesen – weil mich die Themen wirklich interessieren. Aber jetzt ist erstmal Pause. Ich bin müde von dem Stil.

Dieter Borchmeyer ist emeritierter Professor für Neuere deutsche Literatur und Theaterwissenschaft. Von 2004 bis 2013 war er außerdem Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Das merkt man dem Buch leider an. Gefühlt hat er auf den knapp tausend Seiten eine ganze Bibliothek verarbeitet. Eine Fleißarbeit. Ohne Frage.

Stil: lieber populär als wissenschaftlich

Aber mir ist das zu viel Information auf einmal und zu wissenschaftlich geschrieben. Gleichzeitig ist es natürlich keine Wissenschaft, sondern populäre Sachliteratur. Insofern bleibe ich etwas ratlos zurück.

Ich werde an meine Studienzeit erinnert, in der das Lesen wissenschaftlicher Fachliteratur kein Genuss sondern Qual war. Und in der wir bisweilen trotz Sprachbarriere lieber englische Texte gelesen haben, weil sich US-Wissenschaftlerinnen und -wissenschaftler oft verständlicher ausdrücken. Andererseits fehlen dem Buch wissenschaftliche Struktur mit These und Beweisführung, die man einer kritischen Prüfung unterziehen könne.

Schade. Ein etwas populärerer Stil und Aufbau hätten dem Buch gut getan. Das Thema ist aktuell und wichtig. Es wäre eine prima Diskussionsgrundlage für viele Fragen, die sich in unserer heutigen Gesellschaft stellen.

Ich stelle das Buch als Nachschlagewerk in mein Bücherregal. Es ist eine gute und ausführliche Recherchegrundlage für ein leichter lesbares Buch, das vielleicht noch geschrieben werden wird.

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