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Die Kugel. Eine fantastische Kurzgeschichte

„Hast du sie?“ Masuns Stimme drang durch das dichte Blattwerk, körperlos, da die Äste die Sicht versperrten.
„Nein … Ich finde sie nicht.“
Jetzt bloß nicht danebengreifen. Ich schwitzte.
„Siehst du sie noch?“, rief ich nach unten.
„Irgendwie nicht mehr. Ich glaube, die Äste haben sich bewegt.“
„Ja verdammt! Das merke ich!“
Wie von einer geheimen Mechanik gezogen fuhr ein Ast auf mich zu und stoppte kurz vor meinem Gesicht. Im nächsten Moment sauste der Ast, auf dem ich stand, ein Stück tiefer. Ich klammerte mich fest und fluchte etwas heftiger.

Baumkrone mit Blattwerk und Lichtreflexen

„Ich komme hoch!“, rief Masun.
„Nein, lass das besser!“ Doch im nächsten Moment sah ich schon das vertraute Grinsen neben mir.
„Ist doch schön hier.“
Ich schnaubte. Aber Masun hatte recht. Trotz der dichten Krone drang immer noch Licht durch die Blätter und brachte sie zum Leuchten. Kein Vogel war zu hören. Stattdessen das leise raschelnde Rauschen der Blätter, das Klacken von Holz, wenn sich zwei Äste berührten, sanft jedoch nur, nie mit Wucht.

Der Baum tanzte.

Ein großer Ast bewegte sich auf uns zu, schwang herüber wie ein Kran. Ich stoppte ihn mit dem Fuß. Saß da jemand drauf?
„Hey.“ Die Blätter teilten sich und ein schmutziges Gesicht war auszumachen, funkelnde Augen, struppige rote Haare. „Seid ihr schon lange hier?“
„Äh, nein“, stammelte ich. „Wir haben von unten eine Kugel gesehen.“
„Ach was. Na dann viel Glück.“
Ich schaute zu Masun auf der Suche nach Unterstützung. Als ich den Kopf wieder wendete, war der Ast leer.
„Oh. Das kam plötzlich.“
Masun zuckte mit den Schultern. „Lass uns weitersuchen.“
Der nächste Ast war zu hoch zum Greifen.
„Komm her“, befahl ich versuchsweise, und der Ast glitt in meine Hand.
Masun lachte. „Du bist einfach magisch!“
„Glückstreffer“, grinste ich.

Eine Weile kletterten wir schweigend. Trotz der sich bewegenden Äste fühlte sich jetzt alles leicht und geschmeidig an. Der Baum hatte uns in seinen Tanz mit aufgenommen.
„Was sollte das mit dem Rotschopf?“, fragte ich Masun.
Ich spürte einen Knuff in die Seite. „Meinst du mich?“
„He“, protestierte ich. „Du kannst hier nicht einfach verschwinden und auftauchen, wie es dir gefällt.“
„Ich kann alles. Wer von uns ist denn länger in diesem Baum?“
„Masun und ich haben eigentlich auch nicht vor, lange zu bleiben. Wir würden uns nur gerne diese Kugel schnappen …“
„Und wie wollt ihr das anstellen?“
„Na so groß wird der Baum ja nicht sein. Irgendwann finden wir sie.“
„Seid ihr sicher?“ Der Rotschopf schwang sich rittlings auf einen dicken Ast, streckte die Beine aus und wippte mit den Füßen.
Ich schaute mich um. Das Ende der Baumkrone war nicht mehr auszumachen, und zwar in keine Richtung. „Aber es gibt ja Schwerkraft“, beruhigte ich mich. „Wo oben und unten ist, weiß man ja.“ Aber ganz sicher war ich mir nicht.

„Badesch kann die Äste dirigieren“, durchbrach Masun meine Gedanken.
„Tatsächlich?“ Der Rotschopf zog zweifelnd die schmutzigen Augenbrauen hoch. „Zeig doch mal.“
„Ach … Das war sicher nur Zufall.“
„Na los.“
„Okay.“ Ich fixierte einen Ast. „Komm her.“
Der Ast schwang zu mir herüber.
„Nicht schlecht.“ Der Rotschopf pfiff durch die Zähne. „Wird euch nur nicht viel nützen.“
Ich ignorierte die Bemerkung. „Weißt du etwas über die Kugel?“
„Im Moment sehe ich sie sogar.“
Und tatsächlich: Gar nicht weit entfernt entdeckte auch ich jetzt ein Funkeln im Blattwerk. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Masun sich in die Richtung drehte – und in der nächsten Sekunde weg war.
„Masun!“, rief ich erschrocken. „Wo bist du?“
„Vielleicht abgestürzt“, bemerkte der Rotschopf wenig sensibel.
„Die Äste sind so dicht, hier kann man nicht weit fallen“, entgegnete ich verärgert.
„Masun!“ Ich suchte mit den Augen die Krone ab – so weit ich denn sehen konnte.
Wenig überrascht bemerkte ich, dass auch der Rotschopf wieder verschwunden war.
Ich war allein.
„Ganz ruhig“, sagte ich mir und nahm ein paar tiefe Atemzüge. Es roch nach frischem, im Saft stehenden Grün, strotzend vor Kraft, prahlend. Ich fuhr mit den Fingern über die raue Rinde meines Astes. Wo war eigentlich der Stamm? Ich wusste es nicht mehr.

Und die Kugel? Die hatte doch dort hinten gefunkelt? Es war nichts mehr zu sehen. Oder doch? Ein Stück von Masuns weißem Shirt, blitzend durchs Blattwerk …
„Masun?“ Ich kletterte in die Richtung. Ein dicker Ast sauste auf mich zu. Instinktiv duckte ich mich, rutschte ab und landete auf dem nächsten Ast. War er nicht über dem ersten? Wie konnte ich nach oben fallen? Ich schüttelte den Gedanken ab. Wo war jetzt die Stelle, wo ich gedacht hatte, Masuns Shirt auszumachen?

„Badesch?“ Masuns Stimme! Erleichtert lachte ich auf.
„Badesch, wo bist du?“
„Ich bin hier …“, antwortete ich. „Aber ich sehe dich nicht. Ruf weiter, ich komme in deine Richtung geklettert! Und beweg dich nicht!“
„Okay!“, rief Masun. „Am besten, ich singe.“
Es war ein Schlaflied. Warum jetzt ausgerechnet ein Schlaflied? Während ich daraufzukletterte, wurden die Töne immer leiser. Oder wurde nur mein Hörsinn immer leiser? Ich spürte, wie mich eine bleierne Müdigkeit überkam. Nur kurz ausruhen …

Etwas kitzelte mich an der Nase. Als ich die Augen aufschlug, traf mich der amüsierte Blick des Rotschopfs, einen kleinen Zweig in der Hand.
„Habe ich geschlafen?“, fragte ich erschrocken.
„Offenkundig.“
„Ich muss Masun finden.“
„Ich dachte, die Kugel?“
Ich presste die Finger auf meine Augenlider. Die Kugel … Hatte es überhaupt je eine Kugel gegeben?

Der Rotschopf war wieder verschwunden, doch jetzt hörte ich jemanden rufen. Nicht Masun – eine fremde Stimme, sehr weit weg.
„Hast du sie?“
„Nein … Ich finde sie nicht“, antwortete eine zweite Stimme, überraschend nah. „Siehst du sie noch?“
„Irgendwie nicht mehr“, hörte ich die erste Stimme rufen. „Ich glaube, die Äste haben sich bewegt.“
„Stopp!“, versuchte ich zu intervenieren. „Hört ihr mich? Hört mal auf mit dem, was ihr gerade macht.“
Neben mir tauchte eine Gestalt auf. Spöttischer Blick, eher kletterungeeignete Kleidung.
„Was ist?“
„Deine Begleitung soll nicht hochkommen!“
Doch es war zu spät. Schon schlang sich ein Paar Hände um den Ast neben mir, gefolgt von einem schlanken Körper in einer zu großen Windjacke.
„Warum nicht?“, fragte die Windjacke etwas außer Atem. „Damit du die Kugel kriegst?“

Ich schloss die Augen. „Masun“, rief ich im Kopf.
Doch ich hörte keine Antwort.

***

Was meinst du – welches Geschlecht haben die Charaktere der Geschichte? Mach mit bei der Umfrage.

Welches Geschlecht hat Badesch?

Welches Geschlecht hat Masun?

Welches Geschlecht hat der Rotschopf?

[su_box title=“Datenschutz“ style=“glass“ box_color=“#587338″]Die Umfrage wurde mit Pollmaker erstellt. Die Teilnahme erfolgt anonym. Gemessen wird lediglich über die IP, ob eine Person bereits abgestimmt hat. [/su_box]

Künstlerin

Annika Lamer, Portrait

Dr. Annika Lamer, Texterin, Schreibtrainerin und Bloggerin aus Berlin | www.annika-lamer.de
Eine bewegliche Baumkrone, ein berauschender Fluss, ein leuchtender Magnolienwald: Wenn ich Geschichten schreibe, geraten sie ziemlich fantastisch. Als Texterin bin ich da etwas geerdeter unterwegs. In meinen Online-Workshops bringe ich Unternehmer*innen und Marketing-Angestellten einen lebendigen, originellen Schreibstil bei. Kreative Techniken wie Metaphern, Wortspiele und Storytelling spielen dabei immer eine große Rolle.

Dr. Annika Lamer, copywriter, writing coach, and blogger from Berlin | A moving treetop, an intoxicating river, a glowing magnolia forest: when I write stories, they turn out pretty fantasy-like. As a copywriter, however, I’m a bit more grounded. In my online workshops, I teach entrepreneurs and marketing employees a vivid, creative writing style. Creative writing techniques like metaphors, wordplay, and storytelling are always a significant component of the process.

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