Mein Buch „Alle(s) Gender. Wie kommt das Geschlecht in den Kopf?“ ist seit einem halben Jahr auf dem Markt. Es ist nominiert als „Wissensbuch des Jahres 2023“ in der Kategorie Zündstoff. Die Kategorie prämiert das Buch, das ein brisantes Thema am kompetentesten darstellt. Auch sonst bekomme ich viel ermutigendes Feedback. Das freut mich, dafür bin ich dankbar und es gibt mir Kraft, die andere Seite der Medaille auszuhalten. Denn ich bekomme auch Hassattacken und Rufmordkampagnen. Es wird Zeit, dieses Phänomen zu betrachten.
Positive Rezensionen und Feedbacks zum Buch Alle(s) Gender
Die allermeisten Feedbacks und Rezensionen zu meinem Buch sind gut bis sehr gut. Hier ein paar Eindrücke von dem, was bei mir ankommt:
Eine nicht-binäre Person sagte zu mir auf einer Lesung in Köln, sie habe mein Buch beim Kölner CSD gekauft und sei begeistert gewesen. Sie werde es wohl noch ein paar Mal lesen, so viel Information und Denkanstöße seien darin. Besonders habe ihr das ausführliche Quellenverzeichnis gefallen, das ihr ermöglicht, sich mit einzelnen Punkten noch tiefer zu befassen.
Ich investiere viel Arbeitszeit in meine Blogbeiträge, beachte journalistische Kriterien und stelle viel weiterführende Information zur Verfügung. Das alles stelle ich kostenlos für alle zur Verfügung – ohne bezahlte Werbung auf meiner Seite. Aber natürlich muss auch ich im Supermarkt mit Euros bezahlen. Daher freue ich mich, wenn du meine ehrenamtliche redaktionelle Arbeit unterstützt.
Menschen, die sich bisher noch wenig mit dem Thema befasst haben, sagen oft: Boah, ist das viel Information. Das muss ich in Häppchen lesen. Oder: Das muss ich mehrmals lesen. So viel Information bekomme ich am Stück nicht verarbeitet.
Manche erzählen mir, sie würden zwar nicht in allen Punkten mit mir übereinstimmen, fühlten sich aber wohl beim Lesen, da ich den Leuten nicht sage, welche Meinung sie haben sollen.
Alles in allem lautet das Feedback: gut recherchiert, umfassend beleuchtet, toll geschrieben, viel Neues gelernt, viele Denkanstöße.
Die folgenden beiden Rezensionen auf den Screenshots sind von Personen, die sich sehr gut im Thema auskennen, weit über die persönliche Betroffenheit als Transperson hinaus:
David Scholz ist Herausgeber des Buches „Transidentität und Drittes Geschlecht am Arbeitsplatz“. Sein Buch habe ich hier rezensiert. Kennengelernt haben wir uns erst anschließend.
Patricia Schüttler ist OP-Assistentin in einer Münchener Genderklinik und engagiert bei Transident e. V. Mit ihr hatte ich auch für das Buch gesprochen. Sie war also involviert und kommt im Buch vor.
Das Schwulen-Magazin HIM widmente meinem Buch eine Doppelseite und kommt zu dem Schluss:
„gerade, weil sich Lieb auch traut, Fakten beim Namen zu nennen und Dogmen zu hinterfragen, ist ‚Alle(s) Gender‘ ein Buch mit starkem Mehrwert, auch für schwule Männer!“
HiM Magazine No 17, Seite 32-33
Weitere Feedbacks mit Links findest du auf meiner Webseite zum Buch.
Nun zur anderen Seite, bei der mir genau das, was das Him-Magazine lobt, zum Verhängnis wird:
Negative Reaktionen auf das Buch Alle(s) Gender
Auf der anderen Seite gibt es Leute, die vor der Lektüre warnen. Aus ganz unterschiedlichen politischen Lagern:
- Da sind Leute aus dem konservativen Spektrum von rechtskonservativ über rechtspopulistisch bis rechtsextrem sowie Radikalreligiöse, die mir vorwerfen, ich würde Kinder transgeschlechtlich machen wollen und all den Horror, der von Evangelikalen und Rechtsaußen so verbreitet wird.
- Auch unter den RadFems (Radikal-Feministinnen) sind einige, die das Buch unbesehen ablehnen und mir Transideologie vorwerfen.
- Und aus der Bubble des queer-theoretischen Transaktivismus wiederum wird mir Transfeindlichkeit vorgeworfen.
Der queer-theoretische Transaktivismus
Der queer-theoretische Ansatz ist ein Denkkonzept, wonach Geschlecht eine rein kulturelle Konstruktion sei.
Vertreter*innen dieses Ansatzes gehen davon aus, dass das biologische Geschlecht nur eine geringe bis keine Rolle spiele. Manche behaupten sogar, es gebe gar kein biologisches Geschlecht. Widerspruch wird dabei wahlweise als Unwissen, rechts oder transfeindlich markiert. In diesen Denkraum gehört auch die Aussage, es gäbe mehr als zwei biologische Geschlechter und Geschlecht sei ein Spektrum.
Diese Perspektive auf Geschlecht ist auch innerhalb der LGBTQIA-Community umstritten, ebenso die Methoden, mit denen dieses Denkkonzept durchgesetzt werden soll.
Mehr dazu findest du im Jahrbuch Sexualitäten 2023, herausgegeben von der Initiative Queer Nations, hier rezensiert. Die Philosophin Kathleen Stock durchleutet den queer-theoretischen Ansatz in ihrem Buch „Material Girl“, ebenfalls hier rezensiert.
Ich bin also gleichzeitig transideologisch und transfeindlich, je nachdem aus welcher dogmatischen Perspektive mich jemand be- oder verurteilt. Und die wenigsten, die so urteilen, haben auch nur eine Seite im Buch gelesen. Oder sie blättern darin, suchen gezielt nach Trigger-Wörtern und stricken sich dann ihr Narrativ, um es mir vorzuwerfen. Das ist sehr schade, denn eine echte Debatte wäre wichtig und wünschenswert.
Von Aktivist*innen und Allys des queer-theoretischen Transaktivismus, wird immer wieder ein- und dieselbe Rezension herangezogen, um zu „beweisen“, wie gefährlich und transfeindlich ich und mein Buch seien. Den Vorwürfen von Carsten Moll auf queer-de werde ich mich im Folgenden widmen und Belege liefern, damit sich Leser*innen selbst eine Meinung bilden können, auch ohne das Buch ausleihen oder kaufen zu müssen.
Schon die Überschrift macht klar, wo die Reise hingeht: „Als Aufklärung getarnte Angriffe auf trans Frauen“, titelt queer-de und liefert mit der Bildunterschrift direkt eine falsche Tatsachenbehauptung: „In ihrem Buch „Alle(s) Gender“ stellt Sigi Lieb u.a. die „echte Transidentität“ der Bundestagsgeordneten Tessa Ganserer infrage.“
Natürlich greife ich Transfrauen nicht an. Warum sollte ich? Sie kommen im Buch ausführlich zu Wort, so wie auch Transmänner, nicht-binäre Personen und intergeschlechtliche Menschen. Für mich sind das alles ganz normale Menschen, wie andere auch.
Zur Identität von Tessa Ganserer äußere ich mich überhaupt nicht, daher kann ich sie auch nicht infrage stellen. Das ist von Moll frei erfunden. Aber eines nach dem anderen.
Die Rezension von Casten Moll erschien am 1. April 2023, ist aber leider nicht als Aprilscherz gemeint. Sonst hätte er das ja längst aufgeklärt und korrigiert. Eine Anwältin riet mir damals, eine Abmahnung zu schicken. Aber ich hatte Angst, dass dies einen Streisand-Effekt auslösen und eine Horde Aktivist*innen erst recht über mich herfallen würde. Zudem war es eine der ersten Reaktionen auf das Buch und mir wäre vorgeworfen worden, ich könne als Autorin nur keine Kritik vertragen. Daher unternahm ich nichts.
Ich würde vielleicht auch heute nichts schreiben. Es wird so viel Mist im Netz gechrieben. Das kenne ich schon von den Diffamierungen, Beleidigungen und Verleumndungen gegen mich, die von rechtskonservativer bis rechtsextremer Seite kommen.
Molls Text ist ein halbes Jahr alt. Inzwischen liegen viele positive Rezensionen vor und ich bekomme persönlich viel Zuspruch, Lob und lerne viel von den Geschichten, die mir Menschen erzählen.
Warum ich das heute trotzdem schreibe: Die Lügen und die konstruierten Narrative in dem Text von queer-de werden bis heute benutzt, um mich zu diskreditieren. Und nicht nur das, sondern auch – und das schlägt dem Fass den Boden aus –, um dritte Personen unter Druck zu setzen, die mein Buch gelesen haben, es gut fanden und das auch schreiben. Es wird also versucht, Informationskontrolle auszuüben und andere daran zu hindern, eine positive Meinung zu dem Buch zu veröffentlichen. Das ist Red-Flag-Alarm erster Güte! Daher äußere ich mich jetzt zu den Vorwürfen.
Um es dir, liebe Leser*in, möglichst einfach zu machen, habe ich ein paar Seiten aus dem Buch abfotografiert und stelle sie hier als Bilder ein. So kannst du selbst im Buch nachlesen und entscheiden, was du von den Vorwürfen halten magst. Ich habe mich bemüht, die Alt-Texte für blinde Menschen möglichst sorgfältig zu machen, so dass der Inhalt nachvollziehbar wird, ohne sich mehrmals zwei komplette Buchseiten vorlesen lassen zu müssen.
Ich konzentriere mich in meiner Antwort auf die beiden Hauptvorwürfe, die mir Carsten Moll macht.
Behauptung 1: ich würde die Transidentität von Tessa Ganserer infrage stellen. Nein. Das tue ich nicht. Ich äußere mich überhaupt nicht zu ihrer Identität und das hat einen einfachen Grund: Identität können wir nicht sehen. Genau hier liegt doch der Knackpunkt. Identität ist real, aber nur die Person kann sich zu ihrer eigenen Identität äußern. Genau das nutzen Transverbände als Argument, warum sie eine Begutachtung ablehnen.
Wir sehen das Körpergeschlecht und darauf reagieren wir. Das ist für viele Transpersonen ein Problem. Aber genau das wirft mir Moll dann ebenfalls vor, wenn ich schreibe, dass eine Transfrau vor der Frage steht, ob sie ihre Transidentität verheimlicht, aushält und für sich behält und weiter in der Rolle des Mannes lebt (und als dieser gelesen und behandelt wird) oder ob sie eine Transition zur Frau durchführt (und damit Risiken für ihr soziales und berufliches Leben eingeht). Das gilt natürlich auch umgekehrt für einen Transmann, nur ist der Wechsel in die männliche Rolle mit einen patriarchalen Aufstieg verbunden.
Moll erfindet also eine Aussage, wirft mir diese vor, und kritisiert, dass ich Tatsachen beschreibe.
Ganserer kritisiere ich in dem Buch tatsächlich, und zwar für bestimmte Aussagen und Verhaltensweisen, unabhängig von ihrer Identität. So wie ich jede andere Person kritisiere, wenn ich der Meinung bin, dass sie sich unverantwortlich und/oder respektlos verhält. Transfrauen sind ganz normale Menschen und auch als solche zu behandeln. Das heißt, sie dürfen genauso kritisiert werden für ihr Reden und Handeln, wie alle anderen Leute auch.
Hier die Doppelseite aus dem Buch, in der ich Ganserer kritisiere. Die Stellen, in denen ich mich positioniere, sind mit gelbem Marker markiert. Ebenso die Quellen. Der Abschnitt bezieht sich auf zwei Artikel aus der taz, die selbstverständlich im Literaturverzeichnis aufgeführt sind.
Behauptung 2: Moll bedauert, dass ich nicht mit Fußnoten gearbeitet habe und unterstellt mir Intransparenz in Bezug auf die Herkunft meiner Informationen. „Wie Lieb zu ihren Schlüssen kommt, ist so meistens nur zu erahnen.“ Dabei sind meine Quellen im Text genannt, offen und transparent. Am Ende des Buches folgt ein ausführliches Literaturverzeichnis (Seite 312 bis 334).
Es folgen vier Fotos von Doppelseiten aus dem Buch, drei aus unterschiedlichen Kapiteln, ein viertes aus dem Literaturverzeichnis. Mach dir also selbst ein Bild, wie gut du meinem Text und seinen Argumenten folgen kannst und wie transparent ich meine Quellen belege. Die Verweise auf Quellen sind auf den Bildern jeweils mit gelbem Marker markiert. Selbstverständlich sind alle im Literaturverzeichnis angegeben.
Aus dem Kapitel „Geschlechtliche Vielfalt aus biologisch-medizinischer Perspektive“, insgesamt Seite 29 bis 57, auf dem Bild Seite 46/47.
Aus dem Kapitel „Doing Gender“, insgesamt Seite 165 bis 185, auf dem Bild Seite 172/173.
Aus dem Kapitel „Ein Blick in andere Länder und Kulturen“, insgesamt Seite 186 bis 209, auf dem Bild Seite 204/205.
Aus dem Literturverzeichnis, insgesamt Seite 312 bis 334, auf dem Bild Seite 316/317:
Was soll ich von einer Rezension halten, die sich frei erfundener Aussagen bedient, unsachliche Behauptungen aufstellt und akribisch nach Wörtern und Textstellen sucht, aus denen sie eigene Narrative bastelt, um diese gegen mich zu richten? Das hat mit einer sachbezogenen Kritik so viel zu tun, wie BILD, Reichelt und Pleiteticker mit sachlich-ausgewogener Berichterstattung: nichts.
Ich begrüße es, sich kritisch mit meinem Buch zu befassen. Ich wünsche mir Dialog, Diskurs und eine lebendige gesellschaftliche Debatte auf der Grundlage von gegenseitigem Respekt, journalistischer und wissenschaftlicher Redlichkeit, Meinungsfreiheit, Augenhöhe und demokratischen Prozessen. Dann lernen wir alle mit- und voneinander und die Allgemeinbevölkerung erfährt von der geschlechtlichen Vielfalt, von der die meisten bisher entweder keine Ahnung haben oder durch die aufgeheizte Stimmung verunsichert und emotionalisiert werden. Das gefährdet alle gendernonkonformen Menschen. Die sinkende Aktzeptanz von LGBTQIA ist bereits messbar und das ist furchtbar. Dem müssen wir etwas entgegensetzen: Sachlichkeit, Differenziertheit, Wertschätzung auch anderer Ansichten und Lebensentwürfe und Respekt vor Meinungsfreiheit und Demokratie.
Das gelingt nicht, wenn Transfrauen wahlweise wie Heilige behandelt werden und jede Kritik, jede formulierte Grenze oder jede kritische Frage als Blasphemie und feindlich gewertet wird. Das gelingt ebenso wenig, wenn Transfrauen pauschal als Sexualstraftäter dargestellt werden. Das ist beides Mist.
Die Gefahr dieses Schwarz-weiß- und Freund-Feind-Denkens geht weit über das Thema Transgender hinaus. Totalitäre Denkmuster und Methoden beschränken sich weder auf ein politisches Lager noch auf ein Thema. Sie sind ein bedrohliches und demokratie-gefährdendes Phänomen unserer Zeit.
Das Phänomen des Bedrohens, um andere zum Schweigen zu bringen, ist themen-unabhängig
Mensch könnte meinen, wir haben den demokratischen Diskurs verlernt. Es wird eskaliert, attackiert, diffamiert. Institutionen werden angeschrieben, dass bestimmte Leute nicht mehr reden dürfen, Menschen werden nach Protesten ausgeladen oder gar nicht erst eingeladen. Es gibt Briefe an die Arbeitgeberin, Drohungen und Gewaltaufrufe sowie tatsächliche körperliche Attacken. Bis hin zu Morddrohungen werden Menschen eingeschüchtert.
Auch wenn die Islamdebatte ein anderes Thema ist, so zeigen die folgenden Zitate doch, welche strukturellen Mechanismen dahinter stecken. Und die sind unabhängig vom Thema oder der politischen Ausrichtung die gleichen.
Vor kurzem hat der Journalist Constantin Schreiber angekündigt, sich nicht mehr zum Islam äußern zu wollen. Er war der Anfeindungen müde oder mürbe geworden. In der Zeit vom 20. September 2023 äußern sich sechs Autor*innen mit unterschiedlichen politischen Positionen, für die islambezogene Anfeindungen ebenfalls zum Alltag gehören: Khola Maryam Hübsch, Hamed Abdel-Samad, Sineb El Masrar, Mouhanad Khorchide, Susanne Schröter und Alit Ertan Toprak.
Ich zitiere sie hier kommentarlos:
„Der Hass kommt nicht nur von Rechtsradikalen oder religiösen Extremisten, die schlimmste Androhung körperlicher Gewalt erhielt ich von militanten Atheisten.“ Khola Maryam Hübsch
Zeit Online, 20. September 2023
„Ich war Mitte zwanzig, ein junger Ägypter in Deutschland, als mir die Universität Augsburg einen Preis als bester ausländischer Student verlieh. Zwei Jahrzehnte später sagte dieselbe Uni eine Diskussion mit mir ab, weil linke und muslimische Studenten dagegen protestiert hatten, dass ich den Islam kritisiere.“ Hamed Abdel-Samad
Zeit Online, 20. September 2023
„Im deutschen Medienbetrieb sind wir davon berauscht, gute Journalistinnen und Journalisten zu sein, verkennen aber unsere Verantwortung für die Pressefreiheit.“ Sineb El Masrar
Zeit Online, 20. September 2023
„Mich ärgert die Debatte um Constantin Schreiber, weil sie zeigt, wie wirkmächtig die Ideologie des Islamismus ist. Sie kann freie Geister auch durch den Rassismusvorwurf zum Schweigen bringen.“ Mouhanad Khorchide
Zeit Online, 20. September 2023
„Ich leite an der Frankfurter Goethe-Universität ein Forschungszentrum, in dem politische und kulturelle Dynamiken in der islamischen Welt untersucht werden. Unser Team forscht in Asien, Afrika und Europa, um Phänomene wie Sufismus, islamischen Feminismus und Islamismus zu verstehen und einzuordnen. Unsere Veranstaltungen werden von Politikern, Mitarbeitern staatlicher Einrichtungen und Nichtregierungsorganisationen besucht. Wir sind eine gefragte Institution. Dennoch erlebe ich im Alltag immer wieder ehrabschneidendes Mobbing, werde als antimuslimische Rassistin beschimpft und muss turnusmäßig Rufmordkampagnen aushalten. Ernsthafte Argumente werden meist nicht vorgetragen.“ Susanne Schröter
Zeit Online, 20. September 2023
„Unsere Streitkultur wird von einer Cancel-Culture verdrängt. Es verstummen wichtige Stimmen. Auch ich fühle mich im Stich gelassen.“ Ali Ertan Toprak
Zeit online, 20. September 2023
So unterschiedlich die Ansichten dieser Menschen sind, so einig sind sie sich darin, dass die freie Meinungsäußerung, der Widerspruch und der Diskurs extrem wichtig sind für eine lebendige Demokratie. Unterschiedliche Sichtweisen und Perspektiven helfen, ein Thema zu durchdringen und in seiner Vielfalt darzustellen. So können Leser*innen, Zuhörer*innen oder Zuschauer*innen ihr Wissen erweitern, Empathie mit anderen Perspektiven üben und werden ermächtigt, sich ihre eigene Meinung zu bilden.
Zurück zu meinem Buch:
Lass uns streiten: demokratisch, in der Sache und um die bestmögliche Lösung
Natürlich hat jede Person das Recht, mein Buch zu kritisieren. Ich fände es allerdings gut, wenn diese Kritik sich an den tatsächlichen Inhalten orientiert und in der Sache geäußert wird, so dass ich nachvollziehen kann, was genau kritisiert wird.
Auf diese Weise wird die kritische Auseinandersetzung Teil einer fruchtbaren Debatte: Missverständnisse können ausgeräumt, fehlende Aspekte ergänzt werden. Unterschiedliche Sichtweisen, Interessen und Bewertungen werden deutlich.
All das sind Voraussetzungen dafür, dass wir Lösungen finden, die uns in einer demokratischen Gesellschaft in Frieden, Freiheit und Vielfalt neben- und miteinander leben lassen, egal welches Geschlecht, welche geschlechtliche Identität oder sexuelle Orientierung, egal ob religiös oder nicht. Unsere Grundlage ist das Grundgesetz. Für alle gelten die gleichen Menschenrechte. Und sie enden dort, wo sie anderer Menschenrechte verletzen.
Schließen möchte ich diesen Blogbeitrag mit etwas Positiven, mit Hoffnung und Optimismus, mit dem Glauben daran, dass wir in der Mehrheit eine demokratische Debatte wünschen und können.
Das Schönste, das ich im Zusammenhang mit meinem Buch erlebe, sind die Gespräche und Diskurse auf den Lesungen. Bisher war jede Lesung einzigartig, weil jedes Mal andere Aspekte diskutiert wurden, je nachdem, was die Leute im Publikum angesprochen haben. Und jedes Mal gelang es, dass Menschen unterschiedliche Meinungen zum Thema äußern konnten und dabei die Stimmung freundlich und wertschätzend blieb. Jedes Mal kamen die Menschen ins Gespräch.
Eine Veranstalterin schrieb mir auf Linkedin:
„Liebe Sigi,
deine Lesung bei uns in Recklinghausen hallt nach und ich bin froh, dass ich dich spontan gebucht habe. Kolleginnen aus dem Kreis haben schon bei mir angefragt, wie es war. Es war ein bereichernder Abend und mit deiner unaufgeregten Art hast du dafür gesorgt, dass Diskussionen ruhig verliefen und sich alle gehört fühlen konnten.
Weiterhin viel Erfolg! 👏“
Am Rande dieser Veranstaltungen begegnen mir immer wieder Geschichten, die mich berühren und die viel zu wenig erzählt werden.
Eine Therapeutin schrieb mir im Vorfeld einer Lesung über einen Fall aus ihrer Arbeit: Ein geburtsgeschlechtlicher Mann fragte sich, ob er eine Transfrau sei. Gemeinsam gingen sie seinen Gedanken, Gefühlen und Motiven auf den Grund. Dabei stellte sich heraus, dass dieser Mann das Leben seiner im Mutterleib verstorbenen Zwillingsschwester mitleben wollte. Als er diese Trauer um die verlorene Schwester bearbeiten und gehen lassen konnte, war sein Wunsch, als Frau zu leben, vorbei.
Eine junge, nicht-binäre Person erzählte mir von dem Problem, dass sie in der Öffentlichkeit als Frau wahrgenommen und adressiert wird. Und dass sie einige nicht-binäre Personen kenne, die sich aus diesem Grund für eine Mastektomie (Entfernung der weiblichen Brust) entschieden haben. Diese Geschichte fasst mich unglaublich an und bedrückt mich. Vielleicht weil ich mich dieser Gruppe so nahe fühle, als ob ich eine von ihnen sei. Auch wenn ich es anders benennen würde, aber dieses sich weder zu den Frauen noch zu den Männern richtig zugehörig zu fühlen, begleitet mich mein ganzes Leben. Und war letztlich ein wichtiger Motivationsfaktor für mein Buch.
Ich hätte es so gefeiert, wenn ich mit einem androgynen Körper geboren worden wäre, bei dem mein Körpergeschlecht unklar oder undefiniert bleibt. Den hab ich aber nicht, sondern eine klassisch weibliche Sanduhrfigur. Egal wie ich mich also selbst definiere, andere sehen mein weibliches Körpergeschlecht.
Identitäten sind real, aber wir sehen sie nicht. Wir sehen den geschlechtlichen Körper aufgrund einer Vielzahl äußerer Merkmale und erkennen ihn recht treffsicher. Dass Selbst- und Fremdwahrnehmung verschieden sind, damit muss sich jeder Mensch auseinandersetzen, um zu einem stabilen Selbst zu finden, nicht nur in Fragen des Geschlechts, sondern auch in anderen Bereichen des Selbstbilds und Selbstverstständnisses.
In meinem Buch habe ich mit Transpersonen gesprochen, die zufrieden sind mit ihrer Transition und für die dieser Weg der richtige war. Ich habe mir ebenso Geschichten von Detrans-Personen angehört und ich höre weiterhin zu.
Aber wir müssen reden. Bevor jemand sich auf den beschwerlichen Weg einer medizinischen Transition macht, halte ich es für wichtig, sich ehrlich nach der Motivation zu fragen. Und darauf individuelle Antworten zu finden.
Ebenso halte ich es für wichtig, dass sich die Person ein realistisches Bild davon macht, welches Maß an Passing sie erreichen kann und wie stark trotz aller Transitionsmaßnahmen das Geburtsgeschlecht durchscheinen wird. Aus einem breitschultrigen 1,90-Meter-Schrank wird kein zierliches Wesen, aus Schuhgröße 45 wird nicht 37. Und umgekehrt wird ein gebärfreudiges Becken nicht plötzlich ganz schmal. Hormone und ästhetische OPs verändern eine Menge, aber Skelett, Körpergröße oder die Größe von Händen und Füßen eben nicht.
Meine These: Wenn wir es schaffen, Geschlechterstereotype abzubauen, können wir eine Menge Stress loswerden und viel Freiheit in der Entfaltung unserer Identität gewinnen. Ohne Geschlechterstereotype spielt der geschlechtliche Körper eine geringere Rolle. Das entlastet. Und dafür möchte ich mich von ganzem Herzen einsetzen.
Dir liegt das Hören mehr als das Lesen? Bittesehr:
Eine ganze Reihe von Menschen liegt es eher, einem Podcast oder Youtube-Video zuzuhören als seitenweise Text zu lesen. Andere wollen das Hören zum Gelesenen ergänzen. Daher hier ein kurzer Überblick, wo ich in Gesprächen zu meinem Buch zu hören bin. Auch das kannst du nutzen, um dir selbst eine Meinung zu bilden oder es an andere weiterreichen. Damit wir die Debatte versachlichen und gemeinsam eine Gesellschaft in Vielfalt und Demokratie gestalten.
10. Mai 2023: im taz-Queer-Talk mit Jan Feddersen: https://www.youtube.com/watch?v=NSftzax26Hs
20. August 2023: Vorpolitisch Meets Sigi Lieb: https://vorpolitisch.podbean.com/e/vorpolitisch-meets-sigi-lieb/
24. August 2023: bei Carls Zukunft der Woche: #169 Sigi Lieb – Let’s talk about Selbstbestimmung, Baby https://www.carls-zukunft.de/podcast-169/
Einen interessanten Hintergrund, warum die Debatten in so vielen Ländern so krass eskalieren, wie ich das noch nicht erlebt habe, liefert folgendes Gespräch im SWR 2 zur Frage „Woke und identitär – Wird die Aufklärung gecancelt?“. Der Moderator Claus Heinrich diskutiert mit Professorin Susan Neiman, Direktorin des Einstein Forums in Potsdam, Professor Julian Nida-Rümelin, Gründungsrektor der Humanistischen Hochschule in Berlin und Professor Bernd Stegemann, Kultursoziologie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, ebenfalls Berlin.
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Bild: Titel-Collage und Screenshots von Sigi Lieb, Bild mit lesender Person von Jan Vrkoč