
Selbstbestimmung klingt gut. Das klingt nach Freiheit. Jed*er soll selbst bestimmen wie sier lebt. Aber warum wird dann über das geplante Selbstbestimmungsgesetz so gestritten? Anfang Mai wurde nach häufigem Verschieben endlich der Referentenentwurf veröffentlicht. Bis Ende Mai konnten Verbände, Organisationen und Einzelpersonen Stellungnahmen zum Referententewurf abgeben und haben reichlich davon Gebrauch gemacht. Kritik gibt es von allen Seiten. Dieser Blogbeitrag gibt einen Überblick.
Was wird im Selbstbestimmungsgesetz geregelt?
Das Selbstbestimmungsgesetz soll regeln, wer im Personenstandsregister als männlich, weiblich, divers oder ohne Eintrag geführt wird. Das Personenstandsregister wird in den Standesämtern geführt. Beurkundet werden dort neben dem Geschlechtseintrag Eheschließungen, Geburten und weitere persönliche Daten von Bürger*innen.
Bisher orientiert sich der geschlechtliche Personenstand am angeborenen biologischen Geschlecht gemäß äußerer Geschlechtsmerkmale (Penis, Vulva beim Baby). Interpersonen, die gemischtgeschlechtlich geboren sind, können den Geschlechtseintrag in divers ändern oder streichen. Transpersonen müssen in einem Verfahren über das Transsexuellengesetz (TSG) gehen, um ihren Geschlechtseintrag ändern zu dürfen.
Mit dem neuen Selbstbestimmungsgesetz sollen sich Menschen aussuchen können, ob sie männlich, weiblich, divers oder ohne Geschlechtseintrag geführt werden. Voraussetzungen: keine. Wartezeit: drei Monate. Änderungsmöglichkeit: jährlich.
Die Motivation dahinter ist vor allen Dingen im Persönlichkeitsrecht zu suchen und dem Recht eines jeden Menschen, auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Das für die Gesetzgebung federführende Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erklärt auf seiner Website, was es mit diesem Gesetz möchte:
„Das Gesetz wird es trans-, intergeschlechtlichen und nichtbinären Personen erleichtern, ihren Geschlechtseintrag in dem Register ändern zu lassen; außerdem wird es ihnen die Änderung ihres Vornamens erleichtern. Das Gesetz richtet sich an Personen, die sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren, das für sie beim Standesamt eingetragen ist.
Transgeschlechtliche Menschen identifizieren sich nicht oder nicht nur mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Intergeschlechtliche Menschen haben angeborene körperliche Merkmale, die sich nach medizinischen Normen nicht eindeutig als (nur) männlich oder (nur) weiblich einordnen lassen. Das betrifft zum Beispiel die Geschlechtsorgane, den Chromosomensatz oder die Hormonproduktion. „Nichtbinär“ ist eine Selbstbezeichnung für Menschen, die sich nicht als Mann oder Frau identifizieren.“
BMFSFJ, Website
Hier ein paar grundlegende Begriffe:
Warum ist hierfür überhaupt ein Gesetz nötig?
Das Selbstbestimmungsgesetz soll das Transsexuellengesetz (TSG) ablösen. Das TSG war 1980, als es verabschiedet wurde, fortschrittlich, weil es Transpersonen erstmals ermöglichte, überhaupt ihr rechtliches Geschlecht an ihre Geschlechtsidentität anzupassen. Aber die Gesellschaft und ihre Werte haben sich in den letzten 40 Jahren stark verändert und so wurden nach und nach Teile des TSG als verfassungswidrig aus dem Gesetz gestrichen, zuletzt 2011 unter anderem die Pflicht zu geschlechtsangleichenden Operationen.
Seit 2011 können also Menschen ihr rechtliches Geschlecht ändern, ohne ihren Körper dabei phänotypisch anzupassen. Nötig dafür sind zwei psychiatrische Gutachten, die eine Transidentität bestätigen, und ein Verfahren vor dem Amtsgericht. Dieser Weg steht in der Kritik:
- Die Begutachtungen werden von vielen als belastend empfunden.
- Guchachter*innen selbst sagen: Identität lässt sich nicht begutachten.
- Das Verfahren (Gutachten und Amtsgericht) ist teuer.
Wen betrifft das Selbstbestimmungsgesetz?
Die bisherige rechtliche Definition von Mann und Frau orientiert sich an körperlichen Merkmalen und ermöglicht Ausnahmen für Trans- und Interpersonen. Das Selbstbestimmungsgesetz nimmt die Selbstaussage einer Person als Grundlage für ihren rechtlichen Geschlechtseintrag.
Da wir alle ein Geschlecht haben und unsere Gesellschaft in ihren Rechten, Regeln und Räumen geschlechtlich organisiert, hat die gesetzliche Neuregelung des geschlechtlichen Personenstandes Auswirkungen auf alle Menschen. Und zwar überall dort, wo wir
- gemeinsam geschlechtsspezifische Räume nutzen,
- mit geschlechtsspezifischen Regelungen im Wettbewerb stehen,
- geschlechtsspezifische Daten nutzen und
- sonstige geschlechtsspezifischen Regelungen.
Das reicht von öffentlichen Nackträumen (Umkleiden, Duschen, Saunen, Toiletten) über Mutterschutz, Abstammungsrecht, die Teilnahme an Sportwettberwerben, Quoten bis zum Militärdienst. Welche Definition von Geschlecht hat Gültigkeit? Das Körpergeschlecht, die Geschlechtsidentitität, eine Kombination?
In Sporthallen oder Fitness-Centern gibt es traditionell Gruppenumkleiden oder Duschen für Männer und für Frauen. Dritte Räume fehlen meistens, ebenso Einzelkabinen.
Dieser Artikel befasst sich mit unterschiedlichen Ebenen und Definitionen von Geschlecht:
Welche Stellungnahmen zum Gesetzesentwurf zur Self-ID gibt es?
Anfang Mai 2023 wurde der Referentenentwurf veröffentlicht. Bis Ende Mai konnten Verbände, Organisationen und Einzelpersonen Stellungnahmen zum Gesetzesentwurf abgeben. Und haben reichlich davon Gebrauch gemacht.
Laut Pressestelle des BMFSFJ haben 56 im Lobbyregister des Deutschen Bundestags eingetragene Verbände und Organisationen zum Referentenentwurf des Selbstbestimmungsgesetzes Stellung genommen. Zusätzlich gab es Stellungnahmen von 36 Verbänden, die nicht im Lobbyregister eingetragen sind, sowie zahlreiche von Einzelpersonen.
Ein Ministeriumssprecher:
„Die eingegangenen Stellungnahmen umfassen ein breites Meinungsspektrum von großer Zustimmung bis hin zur Ablehnung des Gesetzentwurfs. Von der Mehrheit der Verbände, die Stellungnahmen abgegeben haben, wird der Gesetzentwurf vom Grundsatz her begrüßt. Einzelne Verbände fordern hingegen eine Verschärfung des Entwurfs.“
Mail Presselstelle BMFSFJ
Wo kann ich die Stellungnahmen zum Selbstbestimmungsgesetz finden?
Das BMFSJ hat auf seiner Website 54 Stellungnahmen veröffentlicht. Gegner*innen des Gesetzes beschweren sich, dass ausgerechnet von ihrer Seite viele Stellungnahmen fehlen. Eine Stichprobenrecherche ergibt, dass tatsächlich vor allen Dingen Stellungnahmen der sogenannten Gender Criticals nicht veröffentlicht wurden, darunter die der im Lobbyregister eingetragenen Gruppen LGB Alliance und Frauen Aktion München.
Ein Ministeriumssprecher schreibt:
„Eine Liste der Verbände (insbesondere der nicht im Lobbyregister eingetragenen) können wir Ihnen nicht zur Verfügung stellen, ebenso wenig eine Liste der Einzeleinsendungen. Dies ist auch dem Umstand geschuldet, dass Verbände und Einzelpersonen, die einer Veröffentlichung einer Stellungnahme widersprochen haben, insofern datenschutzrechtliche Belange haben könnten.“
Mail Pressestelle BMFSFJ
Dass keine Stellungnahmen von Privatleuten veröffentlicht werden, die dieser widersprochen haben, versteht sich von selbst. Aber warum das Ministierum keine Stellungnahmen veröffentlichen will, die andernorts öffentlich zugänglich sind und deren Veröffentlichung ausdrücklich erwünscht ist, erschließt sich mir nicht. Auf eine Nachfrage hierzu an die Pressestelle des BMFSFJ habe ich bisher keine Anwort erhalten.
Die Initiative „Lasst Frauen Sprechen!“ hat auf ihrer Website eine Liste von Stellungnahmen erstellt, die entweder deutlich strengeren Missbrauchsschutz fordern oder das geplante Gesetz ganz ablehnen. Teilweise sind die Stellungnahmen auf der Ministeriumsseite zu finden, teilweise nicht. Auch Emma hat eine Reihe von Stellungnahmen veröffentlicht, die sich nicht auf der Ministeriumsseite finden, darunter die der Vereinigung Transsexuelle Menschen.
Auf seiner Website schreibt das BMFSFJ:
„Darüber hinaus werden die Stellungnahmen von Zentral- und Gesamtverbänden sowie von Fachkreisen gemäß § 47 Abs. 3 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien veröffentlicht, sofern diese der Veröffentlichung nicht widersprochen haben.“
BMFSFJ Website
Der besagte Paragraph der Gemeinsamen Geschäftsordnung besagt, dass das Ministerium einen Ermessenspielraum hat, welche Stellungnahmen es veröffntlicht und welche nicht.
In der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO) steht in § 47
(1) Die Bundesministerien unterrichten das Bundeskanzleramt frühzeitig über alle Angelegenheiten von grundsätzlicher politischer Bedeutung.
(2) Bei der Bearbeitung von Anfragen, Fragen und Anträgen sowie im Gesetzgebungsverfahren unterrichtet das federführende Bundesministerium das Bundeskanzleramt und die beteiligten Bundesministerien über die Zusammenarbeit mit dem Deutschen Bundestag, dem Bundesrat und dem Vermittlungsausschuss durch nachrichtliche Übersendung des Schriftverkehrs.
(3) Für eine rechtzeitige Beteiligung von Zentral- und Gesamtverbänden sowie von Fachkreisen, die auf Bundesebene bestehen, gelten die Absätze 1 und 2 entsprechend. Zeitpunkt, Umfang und Auswahl bleiben, soweit keine Sondervorschriften bestehen, dem Ermessen des federführenden Bundesministeriums überlassen. Die Beteiligung nach Absatz 1 soll der Beteiligung nach diesem Absatz und der Unterrichtung nach § 48 Absatz 1 vorangehen.
Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien
Es ist also legal, bestimmte Kritiken einfach nicht zu veröffentlichen. Ob es klug ist, in einem kontrovers diskutierten Gesetzesvorhaben, sich als federführendes Ministerium dem Verdacht auszusetzen, einseitig Meinungen zu blockieren, darf allerdings bezweifelt werden.
Gesetze kann ich nur mit der Bevölkerung machen und nicht gegen sie. Die große Mehrheit der Menschen hat noch überhaupt nicht verstanden, worum es in dem Gesetz geht und inwieweit sie in ihrem Leben und ihren Rechten betroffen sind. Gerade hier wäre eine moderierte breite Debatte nötig,
- um Verständnis für die Belange von Trans- und Interpersonen zu erzeugen,
- gleichzeitig die Bedenken insbesondere von Frauen und Homosexuellen ernst zu nehmen und
- nach tragfähigen Kompromissen zu suchen.
Geschieht dies nicht, droht ein Rechtsruck, wie er bereits in anderen Ländern zu beobachten ist (Finnland, Spanien, Großbritannien, USA).
Auf allen Seiten der Debatte sind stark ideologisch geprägte Narrative unterwegs und viele Behauptungen, viel Desinformation. Die einen verteufeln vor allen Dingen Transfrauen als Sexualstraftäter und pädophile Gefährder. Die anderen bezeichnen alle als Nazis, die davon ausgehen, dass das biologische Geschlecht Relevanz hat und beschuldigen sie des Genozids. Beides aggressiver und gefährlicher Nonsens.
Gerade in einem so aufgeheizten Klima wäre es bitter nötig, für Transparenz zu sorgen und eine sachliche, demokratische Debatte zu fördern und zu moderieren. Leider verpasst das Ministerium diese Chance.
Was wird am Referentenentwurf zum Selbstbestimmungsgesetz kritisiert?
Die Kritik am Entwurf ist vielfältig und geht in entgegengesetzte Richtungen: Den einen gehen die Schutzmaßnahmen für die Rechte biologischer Frauen und Kinder nicht weit genug. Andere sehen darin ein Einfallstor für Diskriminierung und wollen sie streichen. Wieder andere sehen ihre Lebenswirklichkeiten im Gesetz nicht gespiegelt. Und zusätzlich gibt es viel Kritik an einzelnen Formulierungen und vielen Unklarheiten.
Im Folgenden zitiere ich aus einigen Stellungnahmen unterschiedlicher Stoßrichtung:
Die Deutsche Gesellschaft für Trans- und Intergeschlechtlichkeit, DGTI, begrüßt den Gesetzesentwurf, möchte aber die Änderungen, die insbesondere nach Bedenken insbesondere von Frauen in den Entwurf integriert wurden, gestrichen haben. Sie schreibt:
„Gegenüber den im Sommer 2022 vorgestellten Eckpunkten ist der Entwurf jedoch leider an mehreren Stellen zurückgefallen und kann unter Umständen auch Verschlechterungen gegenüber dem TSG und dem bisherigen Abstammungsrecht bedeuten. Der Entwurf erscheint, wie folgt detailliert dargestellt, so, als wären genderkritische Narrative unreflektiert in den Gesetzesentwurf aufgenommen worden und er hält an einigen Stellen an einem menschenrechtlich nicht mehr akzeptablen binären Verständnis von Geschlecht fest.“
Stellungnahme SBGG der DGTI, Website BMFSFJ
Im Folgenden werden die Änderungswünsche detailliert formuliert, darunter:
„Jugendliche ab einem Alter von 14 sollen Erklärungen über ihre Geschlechtszugehörigkeit ohne Zustimmung der Sorgeberechtigten abgeben dürfen.“
Stellungnahnme SBGG der DGTI, Website BMFSJ
sowie das Streichen der Wartezeit von drei Monaten.
Der Bundesverband Trans e. V. begrüßt das Selbstbestimmungsgesetz ebenfalls im Grundsatz und fordert seinerseits Änderungen. Auch hier soll die Wartezeit entfallen und die Hürden für Jugendliche weiter gesenkt werden. Außerdem möchte der BV trans, dass der Begriff „Eigenversicherung“ in „Erklärung“ geändert wird:
„Es bleibt an dieser Stelle aus Perspektive des Bundesverband Trans* noch offen, wie die Abgabe einer Erklärung gegenüber dem Standesamt genau aussehen wird. An verschiedenen Stellen ist im Entwurf diesbezüglich von einer „Eigenversicherung“ (S. 25, 29, 34, 41) die Rede. Das Wort „Eigenversicherung“ ist juristisch nicht etabliert und sollte, um Missverständnisse zu vermeiden und einer Verwechslung mit dem Begriff „eidesstattliche Versicherung” vorzubeugen, durch „Erklärung” ersetzt werden.“
Stellungnahme SBGG BV Trans, Website BMFSFJ
Vor einem Jahr schrieb ich bereits über die Konfliktlinien zwischen Transaktivismus und Feminismus
Der Verein Intergeschlechtliche Menschen e. V. sieht in Teilen des Gesetzesentwurfs eine Verschlechterung für Interpersonen, etwa in der dreimonatigen Wartezeit, die es für sie in der aktuellen Regelung nicht gibt. Derzeit genügt ein ärztliches Attest, um über Paragraph 45b im Personenstandsrecht den Geschlechtseintrag mit sofortiger Wirkung zu ändern. Außerdem beklagt er, dass der Gesetzesentwurf die Lebenswirklichkeiten intergeschlechtlicher Menschen nicht berücksichtigt.
„Aus den angedachten Regelungen wird lediglich eine heteronormativ geprägte Sichtweise auf intergeschlechtliche Menschen deutlich, da davon ausgegangen wird, dass in allen Situationen des privaten Lebens eine eindeutige Zuordnung zu männlich oder weiblich getroffen werden kann. Für intergeschlechtliche Menschen ist bereits zum jetzigen Zeitpunkt das Aufsuchen von Orten, an denen öffentliche Nacktheit für eine entsprechende Teilhabe notwendig ist (z.B. Schwimmbad oder Sauna) teilweise gar nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen möglich, weil sie in der binär geprägten Welt der Umkleiden nicht vorkommen.“
Stellungnahme SBGG Im eV, Website BMFSFJ
Und:
„Durch eine Änderung von §42 Personenstandsverordnung (PStV) ist es seit 2018 Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung und einem von „männlich“ oder „weiblich“ abweichenden Personenstandseintrag nicht möglich, als zweites Elternteil (Vater) eines Kindes durch Heirat oder Anerkennung eingetragen zu werden Jener Personengruppe bleibt nur der Weg über eine gerichtliche Feststellung, der wesentlich länger dauert und mit viel höherem Aufwand verbunden ist. Die Elternschaft muss über Dritte validiert werden.
Diese diskriminierende Regelung speist sich aus Misstrauen gegenüber Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung und basiert auf der falschen Annahme, dass Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung ohnehin zeugungsunfähig seien, somit keine biologische Vaterschaft möglich sei und daher durch eine gerichtliche Feststellung möglichem Missbrauch vorgebeugt werden könnte. Da dies ebenso auf Menschen mit dem Personenstand „männlich“ zutreffen könnte, stellt diese Regelung eine Diskriminierung von Menschen mit den Personenständen „divers“ und „ohne Eintrag“ dar.“
Stellungnahme SBGG Im eV, Website BMFSFJ
Besonderer Konfliktpunkt ist der Paragraph 6, der die Vertragsfreiheit regelt, das Hausrecht und den Zugang zu geschützten Räumen sowie die Teilnahme am Sport. Während die einen die dort vorgenommenen Regelungen am liebsten gestrichen wissen wollen, sind sie anderen nicht deutlich genug.
Unter den Kritiker*innen sind neben Feminist*innnen auffallend viele Lesben und Schwule:
Das Lesbische Aktionszentrum reloaded schreibt:
„Bei geschlechtsspezifischen Räumen und gesellschaftlicher Teilhabe für Frauen und Mädchen wird entweder auf das Hausrecht, die Länder oder private Sportverbände verwiesen, bei Frauenparklätzen interessanterweise auf das Strafrecht als Schutz. Dieses wäre aber bei Tätern mit beliebigem Geschlechtswechsel nicht mehr passend. Kurzum: Die „Öffnungsklausel“ in § 6 Abs. 1 (der Geschlechtseintrag ist maßgeblich, soweit nichts anderes durch Gesetz bestimmt ist) bedeutet, dass der Wechsel des Geschlechtseintrags hinsichtlich der Folgen „dem freien Spiel der Kräfte“ überlassen bleiben soll. Das öffnet dem dominierenden (männlichen) Geschlecht Tür und Tor, die Rechte von Frauen und Mädchen auf ihre mühsam errungenen Schutz- und autonomen Räume sowie ihre gesellschaftliche Teilhabe (z.B. Sport, geschlechtergerechte Medizin, geschlechtsspezifische Statistiken) auszuhöhlen.
Dies ist strikt abzulehnen, da es die Rechte von Frauen und Mädchen aus Art. 2 Abs. (2) -Recht auf psychische und körperliche Unversehrtheit- und 3 Abs. (2) -Gleichberechtigung von Männern und Frauen- gefährdet. Im Übrigen verstößt dieses gesetzgeberische Untätigbleiben gegen das Rechtsstaatsprinzip und das Demokratiegebot, da die Legislative bei der Ausbalancierung von Grundrechten dazu verpflichtet ist, die notwendigen Regelungen selbst zu treffen und nicht auf andere Gewalten abzuschieben.“
Stellungnahme SBGG LAZ, Website BMFSFJ
Und weiter:
„Erforderlich wäre eine Ausbalancierung der Grundrechte von Personen mit abweichender Geschlechtsidentität nach Art. 2 Abs. (1) in Verbindung mit Art. 1 Abs. (1) GG einerseits mit dem Grundrecht von Frauen und Mädchen nach Art. 3 Abs. (2) GG andererseits nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz. Das Grundrecht des Art. 3 Abs. (2) GG ist dabei ebenso zu beachten wie die Regelungen zur Wehrpflicht nach Art. 12a GG. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Um Art. 3 Abs. (2) GG eine maximale Wirkung zu verschaffen, wäre es erforderlich, die Validität des Geschlechtseintrags zum Schutz von Frauen und Mädchen durch Beibehaltung des rechtsgestaltenden Verfahrens nach § 4 Abs. 3 TSG aufrechtzuerhalten und garantierte und angemessene Ausnahmeregelungen für Frauen zur Gewährleistung von autonomen und Schutzräumen, zur beruflichen Förderung und zur gesellschaftlichen Teilhabe zu schaffen.“
Stellungnahme SBGG LAZ, Website BMFSFJ
Die LGB Alliance hält den Referentenentwurf für grundgesetzwidrig. Nach ausführlichen Erläuterungen kommt sie in ihrem Fazit zu dem Schluss.
„Mit diesem Gesetzentwurf diskriminiert der Gesetzgeber Frauen und Männer, indem er ihr Dasein auf einen Gefühlszustand losgelöst vom Körper reduziert, ihnen so die Würde nimmt und damit in ihre unveräußerlichen Menschenrechte eingreift und diese verletzt.
Wir erachten diesen Entwurf eines „Selbstbestimmungsgesetzes“ als verfassungswidrig und als Verletzung unserer Menschenrechte als Frauen und Männer, als Lesben, Schwule und Bisexuelle.“
Stellungnahme LGB Alliance, nicht auf der Website des BMFSFJ
Der Verein „Safia Lesben gestalten ihr Alter e.V.“ schreibt:
„Wir sind Lesben, weil wir emotional und körperlich FrauenLesben lieben und begehren. Wir beziehen uns emotional, körperlich und politisch auf biologische FrauenLesben.
Ohne jegliche staatliche Unterstützung, gespeist von unserer Wut und Empörung über die erfahrene Diskriminierung, haben wir 50 Jahre für unsere Rechte gekämpft, unsere eigenen Räume geschaffen, in denen wir uns austauschen, begegnen, diskutieren, feiern und unsere vielfältige Lesben-Kultur leben konnten und können.
Heute jedoch werden wir lesbische Frauen von Männern, die sich als Frauen/Lesben definieren, bedrängt, ihnen Zugang zu unseren LesbenRäumen zu gewähren und sie als „Sexualpartnerinnen“ zu akzeptieren. Lehnen wir sie ab, werden wir als „transphob“, „Nazis“ oder „Vaginafetischistinnen“ beschimpft und mit Gewalt bedroht.
Die Sicherheiten unserer geschützten Räume werden mit dem geplanten SBGG abgeschafft, da Männer, die sich aus unterschiedlichen Gründen als Frauen/Lesben definieren, Zugang fordern können und sich bereits heute schon verschaffen.“
Stellungnahme SBG SAIFA Lesben Gestalten ihr Alter – Nicht auf Website BMFSFJ
Und weiter:
„Wir fordern Sie auf, einen vollständigen Neustart der Diskussion unter Einbeziehung der Bevölkerung und aller von einem solchen Gesetz betroffenen Gruppen zu wagen.
Der Entwurf ist einseitig geprägt von Interessen der queeren Transideologie und hat in der Bevölkerung keine Mehrheit. Er trägt vielmehr dazu bei, die Gesellschaft zu spalten und die Akzeptanz und Sichtbarkeit von Lesben zu gefährden. Vor allem aber erwarten wir eine umfassende Rechtsfolgenabschätzung für das SBGG für alle Bereiche, in denen Geschlecht eine rechtlich relevante Kategorie ist oder eine Unterscheidung nach Geschlecht vorgenommen wird.“
Stellungnahme SBG SAIFA Lesben Gestalten ihr Alter – Nicht auf Website BMFSFJ
Der Deutsche Städtetag weist in seiner Stellungahme auf viele Unklarheiten für das Verwaltungshandeln hin.
Die Bundesärztekammer macht auf das Problem aufmerksam, dass sich die medizinische Versorgung nach dem Körpergeschlecht richten muss, nicht nach dem Personenstand:
„Das mögliche Auseinanderfallen des Vornamens bzw. des Geschlechtseintrags einerseits und der Physis eines Menschen bzw. des biologischen Geschlechts andererseits kann dazu führen, dass beispielsweise die Bewertung von Laborwerten mit unterschiedlichen Grenzwerten für Männer und Frauen zukünftig nicht mehr auf der Basis von Vorname bzw. Geschlechtseintrag erfolgen kann, sondern dass das biologische Geschlecht bzw. die Physis für diese Bewertung zugrunde gelegt werden muss. Insofern weisen wir darauf hin, dass die vorgesehene Regelung Auswirkungen auf den medizinischen Versorgungsalltag haben kann, da dann die Physis bzw. das biologische Geschlecht die Bezugsgröße bilden und nicht der Vorname bzw. der Geschlechtseintrag.“
Stellungnahme SBGG Bundesärztekammer, Website BMFSFJ
Der Bundesverband der Arbeitgeberverbände BDA verweist darauf, dass die Änderung von Geschlechtseinträgen zu erhöhtem Aufwand in den Unternehmen führt und sie praxistaugliche Regeln und Zeit dafür brauchen:
„In der betrieblichen Praxis führen Änderungen des Geschlechtseintrages in den Bereichen der betrieblichen Altersversorgung und der Personalpolitik zu einem erhöhten Aufwand, der durch praxisorientierte Gestaltung der Regelungen reduziert werden sollte. Hierfür bietet sich insbesondere eine Ausweitung der Sperrfrist an.
Darüber hinaus ist klarzustellen, dass geänderte Geschlechtseinträge keine rückwirkenden Änderungen von getroffenen Vereinbarungen (z. B. erteilten Versorgungszusagen), durchgeführten Geschäftsvorfällen (z. B. Eintritt von Versorgungsfällen aus Zeiten mit unterschiedlichen Rentenbeginnen für Männer und Frauen) und gerichtlichen Entscheidungen (z. B. im Versorgungsausgleich) zur Folge haben. Auch sollte generell und nicht nur im Rahmen der betrieblichen Altersvorsorge bei „getroffenen Vereinbarungen“ über ein Anpassungsrecht in Anlehnung an die gesetzliche Regelung zur Störung der Geschäftsgrundlage nachgedacht werden.“
Stellungnahme SBGG BDA, Website BMFSFJ
Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. (DGKJP) fordert ein Monitoring, Forschung und Evaluierung:
„Anders als in vielen andere Gesetzesvorhaben ist in diesem Gesetz eine Evaluation oder ein Monitoring nicht vorgesehen. Beim aktuell nicht umfangreichen Kenntnisstand zu Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie wäre ein Monitoring und epidemiologische Forschung zu Auswirkungen und Veränderungen, die der geplanten Gesetzesänderung folgen können, sinnvoll und erforderlich.“
Stellungnahme SBGG der DGKJP, Website BMFSFJ
Das ist nur eine Auswahl aus insgesamt mehr als 100 Stellungnahmen zu dem Entwurf. Das Bundesministerium für Famililen, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) täte gut daran, alle zur Veröffentlichung freigegebenen Stellungnahmen auf seiner Seite zu veröffentlichen und eine Sachdebatte zu moderieren, die die unterschiedlichen Interessen und Rechte gegeneinander abwägt und das Verständnis füreinander fördert.
Wie geht es mit dem Gesetzesentwurf weiter?
Auf der Website des BMFSFJ ist am 20. Juni 2023 kein Termin angegeben, wann der Gesetzesentwurf im Kabinett beschlossen werden soll. Die Ruhrbarone und die Zeitschrift Emma schreiben, der Entwurf käme am Mittwoch, den 21. Juni 2023 ins Kabinett.

Nachdem das Bundeskabinett den Entwurf beschlossen hat, kommt er in den ersten Durchgang im Bundesrat. Anschließend wird es in 1., 2. und 3. Lesung im Bundestag besprochen und zur Abstimmung gestellt. Wenn das Gesetz im Bundestag beschlossen wurde, kommt es in den 2. Durchgang in den Bundesrat. Erst danach kann es verkündet und wirksam werden.
Hier ist eine Grafik dazu auf der BMFSFJ-Seite: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/gesetze/gesetz-ueber-die-selbstbestimmung-in-bezug-auf-den-geschlechtseintrag-sbgg–224546
Und was denke ich so zum Selbstbestimmungsgesetz?
Unsere Welt ist vielfältiger und bunter als es eine binäre und heteronormative Ordnung glauben macht. Das müssen wir in unseren Rechten, Regeln und Räumen abbilden. Denn Menschenrechte sind Individualrechte. Das heißt auf der anderen Seite: Menschenrechte einer Gruppe dürfen die Menschenrechte einer anderen Gruppe nicht verletzen.
Ich bin der Auffassung, dass das TSG total veraltet ist und wir dringend eine moderne Neurelegung brauchen. Diese sollte die neuen Geschlechtseinträge „divers“ und „kein Eintrag“ aktiv nutzen, um die Widersprüchlichkeiten, die sich aus Phänotyp, Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität ergeben, intelligent und fair zu lösen. Wir kommen nicht um dritte Räume herum, allein schon um den queeren Menschen ein Angebot zu machen, die genau solche sicheren Räume wünschen. Und um die im Personenstand abgebildeten Geschlechtseinträge „divers“ und „kein Eintrag“ in allen rechtlichen Fragen angemessen abzubilden.
Wie das mit dem aktuellen Referententwurf gelingen soll, kann ich bisher nicht erkennen. Er klingt wie die Quadratur des Kreises und ist voller Widersprüche. Alle Seiten kündigen an, dagegen zu klagen.
Unsere Vorstellungen von Geschlecht verknüpfen natürliche und kulturelle Geschlechterunterschiede zu einem verworrenen Mix. Das macht es komplex und kompliziert. Statt diese Komplexität anzunehmen und eine demokratische Debatte zu unterstüzen, die aufklärt, erklärt, zuhört, argumentiert, respektiert, Kompromisse sucht, wird nur gegeneinander gehetzt.
Dabei haben die meisten Menschen nicht im Ansatz verstanden, worum es bei dem Thema geht. Sie erkennen Mann und Frau anhand phänotypischer körperlicher Merkmale und sehen keinerlei Anlass, daran etwas zu ändern. Wenn wir Sensibilität und Akzeptanz für Trans- und Intergeschlechtlichkeit fördern wollen, müssen wir aufklären, zuhören, in den demokratischen Diskurs gehen und nicht Leuten mit dem Holzhammer eine bestimmte Sichtweise aufzwingen.
Linkliste
BMFSFJ: Gesetzesvorhaben erklärt: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/queerpolitik-und-geschlechtliche-vielfalt/gesetz-ueber-die-selbstbestimmung-in-bezug-auf-den-geschlechtseintrag-sbgg–199332
BMFSFJ: Stellungnahmen: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/gesetze/gesetze-stellungnahmen
Lasst Frauen Sprechen: Stellungnahmen: https://lasst-frauen-sprechen.de/kritische-stellungnahmen-zum-referentenentwurf-fuer-ein-selbstbestimmungsgesetz/
Emma: https://www.emma.de/artikel/das-gesetz-ist-voller-widersprueche-340341

Umfassend beschäftige ich mich mit dem Thema Geschlecht, Sex, Gender, Stereotype in meinem im März 2023 erschienen Buch: „Alle(s) Gender. Wie kommt das Geschlecht in den Kopf?“
Ich habe intensiv recherchiert, belege meine Quellen sehr sauber und bemühe mich, jegliche Ideologie aus dem Buch draußen zu halten. Natürlich habe ich eine Meinung. Und ich lade dich ein, dir deine Meinung zu bilden. Mehr zum Buch und Reaktionen darauf findert du auf der Seite zu Alle(s) Gender.
Zur Kommentarfunktion: Bitte bleibt fair, respektvoll und freundlich. We can agree to disagree. Zu einer viefältigen Gesellschaft gehört die Fähigkeit, andere Meinungen und Lebenswirklichkeiten auszuhalten. Sie sind Teil der Vieflalt. – Natürlich immer im Rahmen der Verfassung und des Strafgesetzbuches.
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Bild: Sigi Lieb
Normalerweise teile ich keine Focus-Artikel, aber dieses Interview mit einer Transfrau zum geplanten Selbstbestimmungsgesetz ist lesenswert: https://www.focus.de/panorama/trans-frau-ueber-neues-selbstbestimmungsrecht-ein-herber-rueckschlag-fuer-menschen-wie-mich_id_202603678.html
Wir müssen endlich allen zuhören und nicht nur denen, die eine bestimmte Meinung vertreten.
Update: Das Selbstbestimmungsgesetz fehlt heute bei den Ergebnissen des Bundeskabinetts: https://www.bundesregierung.de/breg-de/bundesregierung/bundeskanzleramt/kabinettssitzungen/bundeskabinett-ergebnisse-2197550
Unklar bleibt, ob die Minister*innen und Staatssekretär*innen erst gar nicht darüber gesprochen haben oder ob sie gesprochen haben, aber sich nicht einigen konnten. – Mehr Transparenz wäre dringend angebracht.
Queer.de schreibt: „Die Bundesregierung wollte sich heute eigentlich dazu entschließen, das Selbstbestimmungsgesetz ins Parlament einzubringen. Auf der Sitzung am Mittwoch versammelte sich das Regierungsteam aber wohl nicht hinter einem Gesetzestext.“ – Das sind eindeutig zu viele Vermutungen für eine belastbare Aussage und das ganz ohne belastbare Quellen.